Jedes Jahr werden in Deutschland rund 4000 alkoholgeschädigte Kinder geboren. Doch meist gelten sie nicht als unheilbar krank, sondern als frech und faul – und werden überfordert.

Stuttgart - Der Junge scheint einfach unbelehrbar. Jeden Morgen isst er einen Becher Joghurt, steht auf und verlässt den Tisch. Jeden Morgen muss er daran erinnert werden, den Becher auszuspülen und in den Behälter für Plastikmüll zu werfen. Es fallen Sätze wie: „Ich hab’s dir schon 100 Mal gesagt!“. Der Junge gilt als verstockt, sein Verhalten als frech und provokant. Dabei kann er nichts dafür.

 

Sein Pech ist, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Das ungeborene Kind erlitt im Mutterleib eine sogenannte fetale Alkohol-Spektrum-Störung (FAS). „Bei Kindern wie diesem ist die Hirnfunktion gestört, sie können ihr Verhalten gar nicht steuern“, erklärt Christiane Schute, Erziehungsleiterin bei Fazit, einer Gesellschaft für lösungsorientierte Jugendhilfe, „der Junge weiß es wirklich nicht mehr, er hat kein Arbeitsgedächtnis.“

Klein, zappelig und ohne Arbeitsspeicher

In Deutschland kommen rund 4000 Kinder jährlich mit FAS zur Welt. Die meisten leben laut Schulte in Pflegefamilien, weil die leiblichen Eltern trinken, gewalttätig sind oder nicht fähig, Kinder großzuziehen. Mit den betroffenen Kindern aber sind selbst geschulte Pflegeeltern überfordert. „Früher behandelte man sie als Verhaltensauffällige, hatte dort aber nicht die passenden Angebote“, sagt Christiane Schute. Also hätten Pflegeeltern allein kämpfen müssen mit der, wie eingangs beschrieben, exekutiven Funktionsstörung, mit Essstörungen, der motorischen Unruhe, den Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen, den Aggressionen und Depressionen, im schlimmsten Fall mit Straftaten.

Auch finanziell sind Eltern auf sich gestellt, Beratung müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Um so drängender sei es, die Behinderung früh zu erkennen. „FAS kann medizinisch diagnostiziert werden, unter anderem an Gedeihstörungen, einer Logorrhö, also dem inhaltlich unlogisch oder falschen Reden wie ein Wasserfall, sowie an Gesichtsmerkmalen“, erläutert Christiane Schute. Die Diagnose sei seit den 70er Jahren schon am Fötus möglich, seit 2012 auch am Kind. Diagnostiker gebe es noch zu wenig, die therapeutischen Möglichkeiten seien zu wenig bekannt. Die Diagnostik und einige Therapien werden von den Krankenkassen bezahlt, teilweise besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe vonseiten der Sozial- oder Jugendhilfe sowie Geld- oder Sachleistungen nach Pflegestufe I.

Im Alltag helfen Rituale

In der Betreuung betroffener Kinder sollte man sie „schulisch nicht überfordern“, rät Schute. Sehr gute Erfahrungen gebe es mit der Reittherapie. Ferner müsse die Stigmatisierung der Mutter und die Wut der betroffenen Jugendlichen auf ihre Eltern verhindert werden, der Alltag der Kinder sollte voller Rituale und Struktur sein. „So kann man verhindern, dass Pflegefamilien diese Kinder wieder abgeben müssen.“

Der Jugendhilfeträger Fazit bietet landesweit ambulante und stationäre Hilfe an, eine der Beratungsstellen befindet sich seit 2016 in Botnang. Der Kommunalverband Jugend und Soziales (KVJS) fördert den Jugendhilfeträger von diesem Sommer an für drei Jahre. In dieser Zeit sollen Christiane Schute und Geschäftsführer Stefan Pföhler die Öffentlichkeit, in Fachschulen und die Beschäftigten in der Jugendhilfe über FAS aufklären.

Unter anderem auch über die Gefahren von Alkohol: „Es ist ein Zellgift, es schädigt immens, vor allem in den ersten Schwangerschaftswochen“, sagt Stefan Pföhler. „Ein Fötus braucht acht Mal so lang wie die Mutter, um den Alkohol wieder abzubauen, weil die Organe noch nicht ausgebildet sind.“ Dafür wollten sie nun Fachleute, aber auch die Risikogruppen sensibilisieren: Partygirls mit unregelmäßiger Regel und Frauen 40 plus, die regelmäßig mal einen Aperitif, einen Sekt, ein Glas Wein auf der Vernissage oder zum Feierabendeinläuten trinken. Die Aufhebung des Verkaufsverbots von Alkohol nach 22 Uhr spielt Schute und Pföhler nicht in die Hände.