Stuttgart ist jünger geworden. Das liegt an den hohen Geburtenzahlen, aber auch an der Zuwanderung. Das macht sich nun in den Kinderarztpraxen bemerkbar. Viele seien an der Grenze und müssten regelmäßig Kinder ablehnen, wie ein Vertreter der Kinderärzte sagt.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Wer nach Stuttgart zieht und einen Kinderarzt für sein Kind sucht, hat ein Problem. Gleiches gilt für Familien, die den Kinderarzt wechseln wollen. Immer mehr niedergelassene Pädiater nehmen nur noch Neugeborene auf. „Wir haben uns auch zu diesem Schritt entschlossen, weil wir die Versorgung sonst nicht gewährleisten könnten“, sagt ein Stuttgarter Kinderarzt, der anonym bleiben will. Immer wieder müssten sie neue Kinder abweisen. Er arbeite schon an vier Tagen bis 19 Uhr, mehr gehe nicht. Gerade sei die Grippewelle noch zu spüren, da behandele er 100 Patienten am Tag, berichtet der Kinderarzt, der auch Pneumologe ist.

 

„Mit wenigen Ausnahmen sind alle Praxen an der Grenze“, sagt der Obmann der Stuttgarter Kinderärzte, Thomas Jansen, der seinen Praxissitz in Neugereut hat. Regelmäßig müssten Praxen, seine eingeschlossen, Kinder ablehnen und Eltern in der Folge deutlich längere Wege in Kauf nehmen. Seit rund drei Jahren habe sich die Lage zugespitzt, so Jansen. Der Grund: die demografische Entwicklung. Stuttgart ist jünger geworden. So viele Babys wie 2016 sind laut dem Statistischen Amt seit dem Jahr 1970 nicht mehr geboren worden: 6773 waren es – knapp 20 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Auch durch Flucht und Migration hat sich der Anteil der Kinder in der jüngeren Vergangenheit erhöht: 79 185 Null- bis einschließlich 14-Jährige lebten 2016 in Stuttgart, 2006 waren es in der für Kinderärzte besonders relevanten Altersgruppe 73 282.

Bedarfsplanung lässt nicht mehr Arztsitze zu

Während Schulen mehr Klassen und Kitas mehr Gruppen einrichten können (wenn das Personal dafür gefunden wird), dürfen sich in Stuttgart nicht mehr Kinderärzte niederlassen. Das lässt die Bedarfsplanung nicht zu. Laut dieser sieht in Stuttgart alles bestens aus: Der Versorgungsgrad liegt bei 125,6 Prozent. Stuttgart hat auf dem Papier zu viele Kinderärzte und bekommt deshalb keine neuen Sitze zugeschlagen. „Mit der Realität hat die Bedarfsplanung nichts zu tun“, kritisiert Jansen und verweist darauf, dass die Berechnung auf Zahlen von Anfang der 90er Jahre beruhe. Seit 1993 limitiert die Bedarfsplanung die Zahl der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte (siehe Infokasten). Damals sei der Praxisalltag jedoch noch ein anderer gewesen. Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen und der Impfungen habe sich verdoppelt. Nun sei ein neues Gelbes Vorsorgeheft eingeführt worden, was Jansen inhaltlich begrüßt, aber dieses koste noch einmal Zeit – er rechnet mit 50 Arztstunden im Jahr nur wegen des Heftes.

Hinzu komme der gesellschaftliche Wandel: Je mehr Kinder mit unter drei Jahren in die Krippe gehen, desto mehr Patienten kommen in die Praxis, weil kranke Kleinkinder in der Krippe mit Erregern in Kontakt kommen – und ein Elternteil deshalb eine Krankschreibung benötigt. Eine Mutter, die mit dem Kleinkind zu Hause ist, geht mit einem unkompliziert fiebernden Kind nicht unbedingt zum Arzt, eine arbeitende Mutter schon. Für die älteren Patienten wiederum gelte, dass sie länger beim Kinder- und Jugendarzt blieben als früher. Durch all diese Aspekte seien die Fallzahlen in den Praxen auch in den Jahren, als die Kinderzahlen rückgängig waren, konstant hoch geblieben, so Jansen. Nun steigen die Kinderzahlen aber. „Das geht alles nicht mehr auf“, meint er.

Ärzte stehen nicht Schlange, um eine Praxis zu übernehmen

„Was die Stuttgarter Kinderärzte sagen, ist richtig“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Doch die Bedarfsplanung sei gesetzlich vorgegeben. „Es handelt sich um ein Instrument zur Verhinderung von Niederlassungen“, erklärt Sonntag. Es habe immer wieder Reformbemühungen gegeben. Aktuell sei der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss erneut dabei, die Bedarfsplanung anzupassen. Kai Sonntag geht jedoch nicht davon aus, dass sich in Stuttgart dadurch etwas ändert. Bis zu einem Versorgungsgrad von 110 Prozent sei die Landeshauptstadt gesperrt für Neuzulassungen, es müssten also gleich einige Arztsitze zugeschlagen werden, bevor eine zusätzliche Praxis aufmachen kann. Das sei in naher Zukunft sehr unwahrscheinlich, so der Sprecher. Noch etwas komme hinzu: „Es ist nicht so, dass Ärzte bei uns Schlange stehen, um sich speziell in Stuttgart als Kinderarzt niederzulassen.“ Nicht nur die Bedarfsplanung sei ein Problem, sondern auch der Nachwuchsmangel. Immer mehr Frauen ergriffen den Beruf – und diese wollten, wenn sie Mutter werden, meistens Teilzeit arbeiten. Der Trend gehe zu größeren Organisationseinheiten und zum Teilen von Arztsitzen.

Thomas Jansen sieht, dass vor allem in den Großstädten dringend gehandelt werden muss – man müsse Möglichkeiten schaffen, mehr Arztsitze zuzulassen. Er plädiert dafür, die Zahl der Medizinstudienplätze zu erhöhen und bürokratische Regelungen abzuschaffen, damit den Ärzten mehr Zeit bleibt. Vor allem appelliert er an den Gemeinsamen Bundesausschuss: „Wir brauchen eine wirklich bedarfsgerechte Versorgung.“