Von einem Tag auf den anderen plötzlich laufen zu können – Für Kinder ist das eine willkommene Neuerung im Leben. Erwachsene scheitern schon an weit kleineren Änderungen, meint unser Kolumnist.

Stuttgart - Das Kind ist jetzt in dem Alter, in dem man besser noch mal in die Waschmaschine schaut, bevor man sie startet. Sicher ist sicher. Der Junge läuft jetzt – also, zu Fuß, ganz ohne Schleuderprogramm. Und eben erst habe ich ihn ertappt, wie er halb in die Wäschetrommel gebeugt, Geschichten erzählte. Dann lief er schwer geschäftig in den nächsten Raum.

 

„Ganz der Vater, freitagnachts“, denke ich, als er durch die Wohnung stakst, anfangs mehr torkelt als läuft und nebenbei euphorisch irgendetwas erzählt. Ja, wie der Vater, wenn der Abend mit den Freunden ein bisschen zu gut war. Und es ist trotzdem ein bisschen traurig.

„Tschö, muss los!“

Man erinnert sich als Erwachsener kaum an die wirklich bahnbrechenden Ereignisse, wie etwa von einem Tag auf den anderen plötzlich zu laufen. Klar, das erste Mal „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana, das erste Mal küssen, die erste Wohnung, in der man nicht die Eltern aufweckt, wenn man um 3 Uhr nach Hause stolpert … Alles schön und manchmal auch gut.

Aber man muss sich das mal vorstellen: Mittwochs krabbeln, gelegentlich stehen, zwei Schritte machen, umkippen, weiter krabbeln. Donnerstags dann: „Tschö, muss los!“, und das Kind läuft munter aus dem Zimmer. Krabbeln ist endgültig abgehakt.

Erwachsene sind schrecklich unflexibel

Ich ziehe den Hut vor Kindern, die lassen sich in einem Maß auf Neues ein, daran würden Erwachsene reihenweise zerbrechen. Sicher, ab und an schlafen sie schlecht, weil das alles ja irgendwann verarbeitet werden muss. Aber sie stecken das locker weg. Ich kenne Erwachsene, die bis heute nicht verkraftet haben, dass ihre Lieblingskneipe 1997 dichtgemacht hat, dass man im Flugzeug nicht mehr rauchen darf, dass „Neger“ keine passende Ansprache ist oder dass man auch mal zum Bäcker laufen könnte.

Einige haben nicht mal verstanden, dass man mit dem Internet mehr machen kann als Busen anzugucken und Menschen zu beleidigen. Erwachsene sind oft schrecklich unflexibel, nur sehr begrenzt lernfähig und fürchterliche Nervensägen, wenn’s um Neues geht.

Zahnpasta im Bücherregal

Der Kleine wiederum macht ausufernd Gebrauch von seinen neuen Möglichkeiten und experimentiert: Einmal läuft er einfach um mich herum, ein anderes Mal spaziert er unbeirrt brabbelnd zwischen meinen Beinen durch und gibt dem Hund im Vorbeigehen einen Klaps auf den Po.

Sein neuer Bewegungsdrang scheint auch mit Unzufriedenheit gekoppelt, was die elterlichen Fähigkeiten als Raumausstatter angeht. Er trägt ständig Gegenstände durch die Wohnung und ordnet unser eingefahrenes Leben neu. Die Zahnpasta liegt jetzt im Bücherregal, mal auf der Couch, einzelne Schuhe in Bad und Küche und niemand weiß mehr, wo die andere Socke abgeblieben ist. Wäre die Couch nicht so sperrig, sie würde wahrscheinlich längst in der Küche stehen.

Dazu kommt: Seit der Kleine laufen kann, schaue ich auch kaum noch Fernsehen. Denn ich habe keine Ahnung, wo er denn schon wieder die Fernbedienung hingetragen hat. Will er auch nicht verraten. Läuft immer weg, wenn ich frage.

Läuft bei Dir

Misstrauisch werde ich, als er erst die Werkzeugkiste an mir vorbei schiebt, drauf steigt, dann den Stuhl erklimmt und versucht, auf den Tisch zu klettern. Im Jahr 2014 war „Läuft bei Dir“ das Jugendwort des Jahres. Damals habe ich gelacht, jetzt erst kapiert. „Läuft bei Dir!“, rufe ich dem Kleinen hinterher.

Und dann steht plötzlich eine fremde Frau vor der Tür, sie wird unsere alte Babywippe mitnehmen. Die sensationelle Wippe mit dem bequemen Sitz, die beim Wippen fetzige Melodien abspielt und auf Knopfdruck vibriert. Ja, die Wippe, in die das Kind nicht mehr reinpasst. Die Trennung fällt mir offensichtlich schwerer als unserem Sohn. Der läuft schon wieder irgendwo hin.

Wahrscheinlich weiß er: Da chillt bald ein Kind in der Wippe, das noch keinen blassen Schimmer davon hat, dass es bald laufen kann. Herrjeh, sie werden so schnell erwachsen.

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Michael Setzer ist vor einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.