„Citizen Kane“ hat ausgedient: Der beste Film aller Zeiten heißt ab sofort „Vertigo“ – zumindest, wenn man dem Urteil von 1000 Kritikern aus aller Welt glauben darf.

Stuttgart - Man kann manche Rituale doof finden und doch Freude aus ihnen ziehen, die Illusion, in einer fragilen Welt verunsichernder Veränderungen solide Inseln der Unveränderlichkeit gefunden zu haben. Aus dieser Kategorie fällt einem schnell die Patentantwort der FDP ein, alle sozialen Probleme ließen sich durch Steuersenkungen lösen. Bis zur letzten Woche gehörte auch die Kritikerumfrage des altehrwürdigen britischen Filmmagazins „Sight & Sound“ nach den besten Filmen aller Zeiten zu diesen Ritualen.

 

Die Idee, die besten Filme seien durch Addition von Subjektivität objektiv ermittelbar, ist zwar absurd, aber die alle zehn Jahre durchgeführte Umfrage des vom British Film Institute herausgegebenen Magazins war trotzdem stets sympathisch. Seit 1952 lag verlässlich Orson Welles’ „Citizen Kane“ aus dem Jahr 1941 auf Platz eins. Wer zehn Jahre lang nicht im Kino gewesen war, konnte sich jeweils mit einem Blick vergewissern, dass er nicht den besten Film aller Zeiten verpasst hatte.

Schockwelle in der Filmgemeinde

Letzte Woche aber lief eine Schockwelle durch die Filmgemeinde rund um den Globus. Die neue Bestenliste, errechnet aus den Voten von tausend Kritikern aus aller Welt, führt einen anderen Spitzentitel auf. Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958), vor zehn Jahren noch auf Platz zwei gelandet, hat den Rang mit „Citizen Kane“ getauscht. Das Fließende der Geschmäcker wird Schwindel erregend offenbar: „Citizen Kane“ ist nicht von einem genialen Newcomer entthront worden, sondern von einem Klassiker, dessen Vorzüge schon oft gegen die seinen abgewogen worden waren.

Dementsprechend lebhaft verläuft die nun angeschobene Debatte über Spitzenfilme, über Rangfolgen, blinde Flecken, Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens, lebhaft schon deshalb, weil in den letzten zehn Jahren noch mehr des interessanten Filmdiskurses ins schnelle, fröhlich subjektive, gerade in hochwertigen Minderheitenangeboten brillierende Internet gewandert ist.

Cineasten-Blog

In manchem Cineasten-Blog etwa wurde der neu in die Top Ten vorgestoßene „Mann mit der Kamera“, ein avantgardistischer, furios geschnittener sowjetischer Dokumentarfilm aus dem Jahre 1929, als Beleg genommen, wie absurd der Rest der Liste sei: viel zu viel biederes Erzählkino, viel zu wenige radikale Formexperimente, überall die feige Bevorzugung des problemlos Verständlichen.

Was aber wäre eine Debatte ohne Zangenangriff? Darum bekommt die Auswahl der besten Filme auch Zunder von jenen, die sie für zu elitär, zu bildungsbeflissen und vor allem für viel zu altmodisch halten. Vor allem letzterer Vorwurf ist schnell belegt. Das Jahr 2001 taucht in der Spitzengruppe zwar mal auf, aber nur in einem Filmtitel. Stanley Kubricks „2001“ von 1968 ist der jüngste Film in den Top Ten.

Ausgerechnet die deutsche taz forderte ihre Leser daher auf, zwecks Orientierung lieber auf die Top Ten der Internet Movie Database (IMDB) zu schauen. Dort darf jeder, der eine Computermaus bedienen kann, Sternchen vergeben, was angeblich verlässlich den wahren Publikumsgeschmack spiegelt. Wahr ist, dass sich dort viele Werke jüngeren Datums finden. Allerdings gehört es mittlerweile wohl zu den normalen Werbemaßnahmen, Klickfinger zu mieten, die den Beliebtheitsstatus neuer Filme nach oben mogeln.

Hoher Stellenwert

Eine Kritikerliste wird immer darunter leiden, dass zumindest ein Teil der Befragten aus Kenntnis der Mediengeschichte heraus votiert. Kritiker räumen Filmen einen hohen Stellenwert ein, denen etwas erstmals besonders gut gelang, die Neues wagten oder uns etwas Vergangenes intensiv und frisch erleben lassen. Das fällt alten Kamellen naturgemäß leichter als neuen.

Wiese die „Sight & Sound“-Liste also mehr Ähnlichkeit mit der IMDB-Liste auf, wäre sie geschichtsvergessen. So läuft sie Gefahr, auf ein jüngeres Publikum wie die staubige Filmpädagogenfassung von Opas Dauerlamento zu wirken, früher sei alles besser gewesen. Die Lösung dieses Dilemmas ist gar nicht so schwer. „Sight & Sound“ könnte nächstes Mal zusätzlich nach den besten Filmen der letzten zwanzig Jahre fragen. Auch an dieser Liste ließe sich dann gewiss viel herummäkeln. Aber es ist schon mal ein schöner Gedanke, dass es in zehn Jahren noch „Sight & Sound“, das British Film Institute und Muße für solche Nebensachendebatten geben könnte.