Caroline Links Hape-Kerkeling-Biografie „Der Junge muss an die frische Luft“ lässt die Kinokassen klingeln. Warum?

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Fantasy ist derzeit nicht zu schlagen: „Phantastische Tierwesen – Grindelwalds Verbrechen“ mit Jude Law und Johnny Depp führen mit fast vier Millionen Besuchern seit Mitte November die Kinocharts an. Andererseits ist das nur ein Drittel jener zwölf Millionen Menschen, die vor den Zeiten von Netflix in Bully Herbigs Parodie „Der Schuh des Manitu“ strömten. Das war 2001, und Herbig überholte damit sogar die Anteilnahme am Original, Harald Reinls „Winnetou“-Verfilmung“ von 1963 (10 Millionen Zuschauer).

 

Ein Jahr später ist die Regisseurin Caroline Link geboren worden. Sie schickt sich derzeit an, mit „Der Junge muss an die frische Luft“ eine Grenze zu überschreiten, die ein deutscher Film hierzulande nur noch ganz selten passiert: Nach gerade drei Wochen Laufzeit sind in die Verfilmung von Hape Kerkelings gleichnamigem Bestseller bereits knapp zwei Millionen Besucher gekommen. Unter den derzeitigen Umständen fürs Kino: viele.

Nicht nur eine Kerkeling-Geschichte

Selbstverständlich ist ein solcher Erfolg schon deswegen nicht, weil die Buchvorlage die so beliebte Kinokomödie nur in Ansätzen und nur tragikomisch bedienen kann, schließlich handelt es sich um die wahre Geschichte einer depressiven Frau, die ihr Sohn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln als Imitationskünstler aufzuheitern versucht. Vergeblich.

Hape Kerkelings Subjektivität, die für sein autobiografisches Buch konstitutiv war, löst Caroline Link mit dem klugen Drehbuch von Ruth Thoma weitgehend auf. Es ist, vom konstruierten Ende abgesehen, dann gar nicht mehr so wichtig, dass aus dem jungen Hape, gespielt von Julius Weckauf, ein überaus bekannter Mann des deutschen Showgeschäfts geworden ist, dem er allerdings wieder früh den Rücken gekehrt hat. Aus einer Ein-Mann-Schau, die nur einen begrenzten Kreis interessiert hätte, wird der Film stattdessen eine Milieustudie der Kleinbürger und Proletarier im Ruhrgebiet der siebziger Jahre, die sich nicht darauf beschränkt, den Farbton des seinerzeit vorherrschenden Fanta-Orange zu restituieren. Bis hin zu den Mohnfeldern hinter Recklinghausen, das aus logistischen Gründen beim Drehen in Gelsenkirchen angesiedelt war, erfasst dabei nicht nur Ortskundige eine Art Heimatgefühl, sondern selbst Menschen, die mit dem Ruhrgebiet gar nicht viel verbinden.

Konstanten ihrer Arbeit

Die den Film prägende Stadt-Land-Thematik hat Caroline Link seit ihrer ersten großen Arbeit „Jenseits der Stille“ (1996, über Gehörlose in Hochzeiten des Spaßkinos) und der oscarprämierten Produktion „Nirgendwo in Afrika“ beschäftigt. Überhaupt finden sich in „Der Junge muss an die frische Luft“ viele Konstanten ihrer Arbeit wieder: Verschiebungen im Familiengefüge, die Bedeutung der Fantasie – und dass der Tod ein Begleiter des Lebens ist.

Im Grunde genommen dreht Caroline Link, strukturiert von der sehr speziellen Musik des Komponisten Niki Reiser, in einem fort an einem Film, der sich stets aufs Neue mit Verlusten beschäftigt: Alles verschwindet, mehr oder minder mählich: die Zeit, die Umgebung, die Menschen – und dann gilt es, inmitten von Defiziten das Leben an sich zu bestehen, mit einem Trotzdem-Gedanken im Sinn. Und es ist dieses „Trotzdem“, das den Film „Der Junge muss an die frische Luft“ auszeichnet und ganz offensichtlich generationenübergreifend anziehend macht.

Caroline Links nächstes Projekt verlässt die Route nicht: Verfilmt wird die Geschichte einer erzwungnen Flucht, Judith Kerrs Jugendroman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Judith Kerr, 1923 in Berlin geboren, lebt heute in London.