Ein französischer Film bricht in Deutschland alle Regeln der Kinobranche. „Ziemlich beste Freunde“ lockt die Massen in die Säle.

München - Beim Hanser Verlag in München nimmt man an den Wettgeschäften des Buchmarkts normalerweise nicht teil. Das riskante Lizenzlotto funktioniert so: Man ersteigert gegen Konkurrenten die Rechte an einem ausländischen Bestseller und hofft, dass sich die Übersetzung dann auch hierzulande verkauft wie Jungbrunnenwasser in der Vorratsflasche.

 

Der Hanser Verlag ist eine der feinsten Adressen für Literatur. Er hat selten Bestseller im Programm. In diesem Frühjahr aber gilt er als Glückskind der Branche. Seit Freitag liegt nämlich ein Titel dieses Verlags in den Buchhandlungen, der vorab so viel Aufmerksamkeit erregt hat, wie sie keine noch so verschwenderische Werbekampagne eines Medienkonzerns je hätte erzwingen können. Es ist das Buch eines Amateurs, eine autobiografische Geschichte, ein – wie man in der Branche vor ein paar Monaten noch müde geseufzt hätte – Behindertenbuch: Philippe Pozzo Di Borgos „Ziemlich beste Freunde“, der Bericht, wie der Autor mit seiner Lähmung zurechtkommt und wie er in seinem Intensivpfleger Abdel, einem Ex-Sträfling, einen guten Freund gefunden hat. Heute könnte sich Hanser die Lizenz dieses Titels nicht mehr leisten.

Denn vor dem Buch kam der Film nach Deutschland – und er hat sich, mittlerweile in der neunten Woche im Programm, zum faszinierendsten Phänomen entwickelt, welches das deutsche Kino seit Langem erlebt hat. „Ziemlich beste Freunde“ gehört nach Machart, Herkunft und Thematik zu jenen Spielfilmen, denen Branchenoptimisten hierzulande maximal 100 000 Besucher zutrauen, die real aber meist zwischen 20 000 und 50 000 Kartenverkäufe erzielen. „Ziemlich beste Freunde“ aber liegt mittlerweile bei 6,5 Millionen Besuchern – und der Zustrom hält an.

Kinofilme, so lautet die Regel, erzielen heute ihren stärksten Umsatz am ersten Wochenende, danach geht’s rapide bergab. Fälle, in denen gute Mundpropaganda die Einspielzahlen konstant hält, in denen gar die Besucherzahl zunimmt, sind selten geworden. Überrascht ein kleiner Neustart tatsächlich einmal durch extrem gute Zahlen, dann setzt ein Verheizungseffekt ein, den auch Kinobetreiber beklagen, obwohl sie daran teilhaben. Jeder will am Erfolg partizipieren, zu viele Kinos spielen in derselben Stadt denselben Film, die Besucherzahlen pro Leinwand gehen in den Keller – und alle Kinos setzen den Film dann zeitgleich ab. So hat er sein wahres Potenzial eventuell gar nicht entfalten können.

Harmonie unter Franzosen und Deutschen

„Ziemlich beste Freunde“ ist klein gestartet und seiner guten Einspielzahlen wegen von vielen Kinos angefordert worden. Nach jenen Marktregeln, die er souverän über den Haufen wirft, hätte er so innerhalb von zwei Wochen verheizt sein sollen. Inzwischen aber belegt er 779 deutsche Leinwände, und es kommen immer mehr Zuschauer, je mehr Kinos ihn zeigen. Rund 340 000 Besucher vermeldete die Fachpresse für das vergangene Wochenende, das war erneut der Spitzenplatz der Charts: Am neunten Wochenende mehr Menschen zu locken, haben in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nur drei andere Filme geschafft, „Pretty Woman“ 1990, „Titanic“ 1998 und „Avatar“ 2010.

Warum „Ziemlich beste Freunde“ alle Branchenregeln bricht, ist vorderhand leicht erklärt. Er erreicht eben nicht nur das regelmäßige Kinopublikum, dessen Sehverhalten die Branchenstatistiken formt. Dieser französische Film erreicht auch Menschen, die nur selten ins Kino gehen, ja, die schon seit Jahren nicht mehr dort waren. In Kegelclubs, in der Seniorenwandergruppe und beim Vorbereitungstreffen des Gemeindebasars erzählen Leute, die nicht als Kinonarren bekannt sind, wie sehr ihnen der Film gefallen hat. Solche Mundpropaganda von Kinomuffeln zeitigt bei anderen Kinomuffeln große Wirkung.

Schwieriger zu erklären ist, warum ausgerechnet „Ziemlich beste Freunde“ die neugierig Gemachten dann auch wirklich überzeugt, wenn sie ihn anschauen. Es scheint der rechte Film zur rechten Zeit zu sein: Rassen und Klassen versöhnen sich hier, ein Armer und ein Reicher finden zueinander, ja, der Respekt entsteht aus einem sehr direkten Herr-Diener-Verhältnis. Das könnte als tröstlicher Gegenentwurf zu jener sozialen Verhärtung sein, vor der sich viele Menschen fürchten.

„Ziemlich beste Freunde“ war schon in Frankreich ein Hit. Normalerweise hat das wenig zu bedeuten. Zu den prägenden Eigenarten des europäischen Kinos gehört es, dass seine nationalen Erfolge meist nicht exportierbar sind. Franzosen und Deutsche aber scheinen sich derzeit beide nach einer sozialen Klimaerwärmung zu sehnen. Das ist gewiss nicht die schlechteste Harmonie unter Nachbarn. Fragt sich nur, was aus der Sehnsucht wird, wenn im Kino das Licht wieder angeht.