Das zivilisationskritische Drama zeigt am Schicksal einer Gangsterbraut die Wandlung Chinas vom Reich der Mitte zur zeitgenössischen Weltmacht, in der die alte Kultur hinweggefegt wird.

Stuttgart - Im Jahr 2001 ist China nicht mehr das kommunistische Reich der Mitte, sondern längst eine Großmacht geworden. Unter der Führung von Premierminister Zhu Rongji ist die Volksrepublik der Welthandelsorganisation (WTO) beigetreten. Küstenstädte wie Shanghai werden zu „offenen Städten“ erklärt, die Provinzen Zentralchinas vernachlässigt – und in einer dieser Provinzen, Shanxi, spielt Jia Zhangkes Film „Asche ist reines Weiß“.

 

Qiao, eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, liebt Bin, den einflussreichsten Gangster am Ort. Ihre Liebe ist bedingungslos, gleichzeitig genießt sie alle Vorteile, die es mit sich bringt, die Frau eines Bandenchefs zu sein. Jia Zhangke zeigt Trinkgelage, Autofahrten durch die Millionenstadt Datong, Menschen, die weder verarmt noch neureich wirken. Sie gehören zu den Erben der brutalen Verhältnisse der Kulturrevolution. Ihre Gesetze orientieren sich am Jianghu, einer männerzentrierten Unterwelt, in der der Hass ebenso beheimatet ist wie die Liebe. Als Bin von einer rivalisierenden Bande angegriffen wird, greift die Grundmoral des Jianghu: Töten oder Sterben. Qiao, die bedingungslos Liebende, gibt mit einer Pistole einen Warnschuss ab, die Gegner fliehen, aber Waffenbesitz ist in China verboten. Qiao nimmt alle Schuld auf sich und wird verurteilt.

Zhao Tao überzeugt als Charakterfrau

Die Wandlung der eher naiven, weiblich gekleideten Gangsterbraut zu einer verurteilten Knastinsassin in schäbigen Häftlingsklamotten ist mehr als anrührend. Zhao Tao spielt diese Charakterfrau mit einem komplexen Repertoire an Regungen, das man von ihr kennt: Sie hat schon in Zhangkes Filmen „Still Life“ (2006) und „Mountains may depart“ (2015) überzeugt. Als Qiao nach fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, wird ihre Erwartung, von Bin empfangen zu werden, aufs Tiefste enttäuscht. Nicht einmal eine Nachricht hat sie von ihm. Und so macht Qiao sich auf die Suche in einem Land, das ihr fremd geworden ist.

Wolkenkratzer dominieren die Stadt Fengjie, in der Bin jetzt mit einer neuen Frau lebt. Gigantische Brücken führen über den Yangtse, Kreuzfahrtschiffe bringen Touristen zum Dreischluchtendamm mit Wasserkraftwerk, Schleusenanlage und Schiffshebewerk. Nicht buddhistische Klöster, Skulpturen und Wandgemälde werden nun bestaunt, sondern die Ikonen der Moderne. Als Qiao endlich Bin wiederfindet, ist der Ex-Gangsterboss nach einem Schlaganfall und völligem Machtverlust ein gebrochener Mann.

Das neue China erzeugt neue Gesetzlose

Mit größtmöglichem Unverständnis für seine Niederlage spielt Liao Fan diesen dunklen Charakter, der vom großen Fisch in einem kleinen Becken zur hoffnungslosen Kreatur wird, auch wegen seines Machoverhaltens. „Ich empfinde nichts mehr für dich“, gesteht seine einstige Braut, als sie ihn Jahre später im Rollstuhl durch die gespenstische Kulisse eines halb fertigen Stadions schiebt. Fragwürdig wirkt hier der Fortschritt, der die Menschen von ihrer alten Kultur entfremdet und von sich selbst. Unübersehbar ist die Zivilisationskritik des Independent-Regisseurs Jia Zhangke, neben Chen Kaige und Zhang Yimou einer der bekanntesten Filmemacher Chinas.

Letztlich greifen aber auch im Jahr 2018 noch einmal die Gesetze des Jianghu: Obwohl Bin Qiao emotional zerstört hat, wird sie ihn aus Rechtschaffenheit aufnehmen, ihm aber jeglichen Körperkontakt verweigern. In einem zarten Moment sucht Bin nach Qiaos Hand, sie entzieht sich ihm. Ihre gemeinsame Geschichte hat die Frau unabhängig, aber hart gemacht, den Mann abhängig und schwach. In einem anderen tieftraurigen Moment – Qiao hat Bin in seinem Rollstuhl auf den Vulkan hochgehievt, dessen Asche pures Weiss ist – liefert Jia Zhangke eine letzte Erklärung, was Triaden in China ausmachen. „Wir sind Gesetzlose“, sagt Bin. Qiao zielt mit dem Revolver in die Luft, und er kommentiert: „Siehst du, jetzt gehörst du auch dazu.“

Die aufstrebende Weltmacht, das neue China, erzeugt neue Gesetzlose. „Asche ist reines Weiß“ ist ein schillernder, packender Spielfilm über die Verwerfungen in einer alten Nation, die sich neu erfindet.