Kinokritik: Persischstunden Lars Eidinger glänzt als neurotischer Nazi

Dem Regisseur Vadim Perelman gelingt in seinem Kinofilm „Persischstunden“ ein Kunststück: Er zeigt die Nazi-Schergen in einem KZ als Menschen, ohne deren Gräueltaten zu relativieren.
Stuttgart - Zufälle und glückliche Fügungen helfen dem belgischen Juden Gilles in einem deutschen Konzentrationslager, doch was letztlich sein Leben rettet, ist seine Chuzpe: Er gibt sich als Perser namens Reza aus und zögert nicht lange, einen Hauptsturmführer in Farsi zu unterrichten. Der heißt nicht nur Koch, sondern ist auch einer und möchte nach dem Krieg in Teheran ein Restaurant eröffnen. Gilles/Reza kann natürlich kein Farsi, also erfindet er nach und nach eine Fantasiesprache, die er selbst nachts büffeln muss, um nicht aufzufliegen. Dabei hilft ihm auf unverhoffte Weise ein privilegierter Job: Koch lässt ihn das Namensregister der Lagerhäftlinge führen.
Die Prämisse funktioniert wunderbar als tragendes Element eines satirischen Weltkriegsdramas, das die gesamte Absurdität des Treibens der Nazis offenlegt, ohne deren Gräueltaten zu relativieren. Tatsächlich bezieht sich der ukrainisch-kanadische Regisseur Vadim Perelman auf eine wahre Begebenheit, als Vorlage für das Drehbuch von Ilya Zofin diente die Erzählung „Erfindung einer Sprache“ von dessen deutschem Kollegen Wolfgang Kohlhaase („Sommer vorm Balkon“).
Es ist eine schauspielerische Offenbarung, mit welch feinen Nuancen die beiden Hauptdarsteller sich in diesem Duell der Geister begegnen. Lars Eidinger („25 km/h“) sind die inneren Kämpfe ins Gesicht geschrieben, die in dem neurotischen, permanent rauchenden SS-Sonderling Koch toben, der bei sich selbst keine Verantwortung für das Morden sieht. Der Argentinier Nahuel Pérez Biscayart verkörpert in Mimik und Gesten den ganzen Schmerz der Vernichtung als permanent unter Todesangst stehender Gefangener, der sich trotzdem einen feinen rebellischen Unterton leistet.
Die Offiziere verachten ihre Leute
Bald stellt sich heraus, dass Koch nach Teheran möchte, weil sein Bruder dort lebt – seit 1939, er hat sich offensichtlich abgesetzt. So reiht sich ein Widerspruch an den nächsten in der unbarmherzigen Welt des Nazi-Reiches, in die Perelman ganz anders eintaucht als etwa Steven Spielberg in „Schindlers Liste“ (1993). Er widmet sich ausführlich den deutschen Wärterinnen und Wärtern, die einander ununterbrochen misstrauen, piesacken, hintergehen und denunzieren.
Darin spiegelt sich im Mikrokosmos ein wichtiges Element des „Führerprinzips“: Solange die Schergen sich untereinander bekriegen, bleibt der Diktator unangefochten. Nicht ein brutaler Sadist wie bei Steven Spielberg kommandiert hier das Lager, sondern ein zynisch-verschlagener Standartenführer (köstlich gespielt von Alexander Beyer). Die Offiziere verachten die unteren Chargen, die die großen Zusammenhänge nicht verstehen, sie hören aber dennoch ganz genau hin, wer hier was über wen sagt.
Exemplarisch dafür stehen die Küchenaufseherin Elsa, die gerne lästert, und der Wachmann Max, der nichts unversucht lässt, den Perser als Hochstapler zu überführen. Leonie Benesch und Jonas Nay glänzen in diesen Rollen und zeigen, wozu deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler fähig sind, wenn nur das Drehbuch und die Regie stimmen.
Die Mörder werden menschlich
Diese Nazis wirken nicht wie Roboter, die ständig im Befehlston herumschreien, sondern wie Menschen, getrieben von Emotionen wie Liebe, Eifersucht und Angst. „Damit kann sich das Publikum identifizieren und sagen: Das hätte ich sein können“, hat Perelman bei der diesjährigen Berlinale erläutert. „Das macht es viel schwerer, es als Anomalie nicht an sich heranzulassen – so etwas kann jederzeit in jedem Land passieren.“ Perelman verharmlost nichts, im Gegenteil: Wenn die SS nicht aus indoktrinierten, deformierten Befehlsempfängern und Mördern besteht, sondern aus Menschen, wirkt es umso drastischer, wenn sie in Schlaglichtern ihren Frust abreagieren, Gefangene misshandeln und umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken. Koch indes schreibt ein Gedicht in der Sprache, die er für Farsi hält. Er möchte glauben, „sein Perser“, den er mehrfach gerettet hat, wäre so etwas wie ein Freund. Wie so viele damals und danach spaltet er vollständig von sich ab, dass er aktiv mittendrin ist in einem der barbarischsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.
Persischstunden. D/RUS 2020. Regie: Vadim Perelmann. Mit Lars Eidinger, Nahuel Pérez Biscayart, Leonie Benesch. 127 Minuten. Ab 12 Jahren.
Ab Donnerstag, 24. September, in Stuttgart im Kino Atelier am Bollwerk
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