Viele Kinder glauben irgendwann mal, ein Monster verstecke sich irgdnwo in ihrem Leben – unter dem Bett, im Keller, auf dem Dachboden. Der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona erzählt im Kinoneustart „Sieben Minuten nach Mitternacht“ so einen Fall, aber mit ernstem Dreh. Die tödliche Erkrankung der Mutter gewinnt hier Eigenleben – und dank starker Bildsprache und Besetzung tauchen wir ins kindliche Gefühlschaos ein.

Stuttgart - „Geschichten sind wilde Kreaturen“, sagt das gigantische Monster. Es weiß, wovon es spricht, denn es ist ein großer Geschichtenerzähler mit starkem Hang zu dunklen Parabeln und kunstvoller Dramatisierung. Pünktlich um sieben Minuten nach Mitternacht erscheint es dem zwölfjährigen Conor und konfrontiert ihn mit dem Dämon, den der Junge mit allen Mitteln zu verdrängen sucht: dem Krebs, der seine alleinerziehende Mutter und damit sein gesamtes Lebensmodell aufzufressen droht. Wenn Mama stirbt, muss Conor zu seiner pedantischen Großmutter, der er eine Mitschuld an seiner Misere zuschiebt.

 

Der junge schottische Schauspieler Lewis MacDougall stemmt mit dieser Rolle eine Herkulesaufgabe. Er zeigt eine erstaunlich differenzierte Interaktion mit den beiden Frauen in der Filmrealität seiner Figur. Als Conor kuschelt, da lacht und weint er mit seiner Mutter, wie ein Kind an der Schwelle zum Jugendlichen es tun würde, und er ist zum Platzen angespannt in Gegenwart seiner Oma.

Der Einzelgänger und der Baumriese

MacDougall lässt den Einzelgänger Conor Haltung bewahren, wenn ihn in der Schule ein paar empathiefreie Barbaren wüst traktieren, er lässt ihn klaglos den Haushalt organisieren, um die Patientin zu entlasten. Und er beugt sich mit solcher Entschlossenheit übers Zeichenpapier, dass nicht der geringste Zweifel aufkommt, dass er das unerfüllte Talent seiner Mutter geerbt hat, die so gerne Künstlerin geworden wäre – was er als Teil des Problems identifiziert hat.

Hier gibt es den Trailer zu „Sieben Minuten nach Mitternacht“:

Schließlich geht MacDougall bemerkenswert selbstverständlich mit dem Monster um, dessen glühendes Auge so groß ist wie sein Fenster – obwohl er vor grünem Hintergrund mit sich selbst gespielt hat, denn natürlich ist der digitale Gigant erst nachträglich einmontiert worden. Der alte Baumriese auf dem nahen Friedhof bricht da aus seinem Wurzelloch aus, wird mittels ausgefeilter Animation zum monströsen Schicksalswanderer mit ausgeprägtem Charakter. Auch andere Albtraumaspekte des Films sind spektakulär inszeniert, ob nun die Welt einzustürzen droht, sich ein riesiger Krater auftut oder Conor krampfhaft die Hand seiner schwindenden Mutter festzuhalten versucht.

Starke Bilder, eindrucksvolle Darsteller

Der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona hat eine starke Bildsprache gefunden, um leinwandfüllend ein kindlichjugendliches Gefühlschaos zu illustrieren. Er verlässt sich dabei aber nicht auf die Effekte, sondern vor allem auf stimmige menschliche Interaktion und Emotionen. Schon in „The Impossible“ (2012) über die Tsunami-Katastrophe in Thailand hat er dieses Talent ausgespielt und die Zuschauer die Seelenzustände Betroffener nachempfinden lassen.

Niemand spricht es aus

Mit „Sieben Minuten nach Mitternacht“ besteht er auch neben dem ähnlich gelagerten Meisterstück seines Förderers Guillermo del Toro („Pacific Rim“), der einst in „Pans Labyrinth“ (2006) die Gräuel des spanischen Bürgerkrieges in den albtraumhafte Fantasien einer Zehnjährigen visualisiert hat. Eine starke Besetzung hilft Bayona: Felicity Jones („Rogue One“) bespielt als kranke Mutter konsequent den Zwiespalt, dem Sohn zuliebe weiterzumachen, obwohl sie körperlich längst nicht mehr dazu in der Lage ist, Sigourney Weaver („Alien“) bietet eine eindrucksvolle Vorstellung als strenge Großmutter, die nicht aus ihrer Haut kann. Alle in Conors Umfeld wissen und spüren, was den aufsässigen Jungen umtreibt, aber niemand spricht es aus – Bayona erzählt konsequent in Bildern.

Die düsteren Geschichten des Monsters hat er mit künstlerischer 2-D-Animation bebildert, ein schöner Kontrast zum digitalen Bildspektakel. „Menschen sind komplexe Tiere“, sagt der wandelnde Baumriese, der weiß, dass die Dinge selten geradlinig verlaufen, wenn die Psyche ins Spiel kommt – und dass es doch immer Wege gibt, einen scheinbar übermächtigen Schmerz zu überwinden.