„Freies Land“ ist nicht bloß ein sehr gutes Remake, sondern der bisher wohl ehrlichste Film über den Zeitgeist direkt nach der Wende.

Stuttgart - Der Hamburger Kriminalkommissar Patrick Stein hat es nicht so mit den Toten. Als er im Winter 1992 zum Ablageplatz zweier Frauenleichen irgendwo im Nirgendwo von Mecklenburg-Vorpommern gerufen wird, muss er sich beim Anblick der übel zugerichteten 16 und 17 Jahre alten Schwestern erst einmal übergeben. Dass die Mädchen in ihrem Heimatdorf als Flittchen verschrieen waren und bis zu ihrem Auffinden nicht einmal von ihren Eltern ernsthaft vermisst wurden, treibt Stein (Trystan Pütter) zusätzlich die Galle hoch.

 

Seit kurzem erst arbeitet er für die Kripo in Rostock, weil er es allzu genau genommen hat mit der Moral – und damit seinem Chef auf die Nerven gegangen ist. Jetzt tut sich Stein schwer mit den rustikalen Sitten im wilden Osten knapp nach der Wende. Sein ostdeutscher Kollege Markus Bach (Felix Kramer) ist weitaus robuster und als Kriminaler nahtlos von einem System ins andere gerutscht, den Dreck aus DDR-Zeiten trägt er noch unter den Fingernägeln. Trotzdem müssen sich die Männer zusammenraufen. Außer den Schwestern sind noch weitere Mädchen des Dorfes spurlos verschwunden. Nur reden will darüber niemand.

Ödnis in Rost und Ocker

So wie in Christian Alvarts Thriller „Freies Land“ hat man Deutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung wohl noch nie im Kino gesehen. Helmut Kohls Versprechungen der blühenden Landschaften klingen zynisch angesichts der vermatschten Ödnis in Schattierungen von Rost und Ocker, die Alvart hier zeigt. Das Hotel „Fortschritt“, in dem Bach und Stein für die Ermittlungen hausen, sieht aus wie der verwahrloste Set eines Defa-Endzeitfilms, mit fäkalbraunen Holzpaneelen, verschlissenen Polstern und besoffenen Gästen in der nur notdürftig mit ein paar Funzeln beleuchteten Lobby. „Fasse dich kurz“, droht ein Schild über dem Fernsprecher, mit dem Stein Kontakt hält zu seiner schwangeren Frau.

Christian Alvart, verantwortlich für Drehbuch, Regie und Kamera, inszeniert den Osten als ein einziges, verschlammtes Gefängnis, aus dem die getöteten Frauen ausbrechen wollten, nach Berlin, wo die Freiheit greifbarer erscheint als im vom Sozialismus abgewrackten Hinterland.

Eine Eigenkreation ist der Plot von „Freies Land“ allerdings nicht. Alvart adaptiert hier den nicht minder düsteren spanischen Thriller „La isla minima – Mörderland“, der von Frauenmorden in Spanien kurz nach der Franco-Diktatur erzählt. Alvart bleibt nah an der Vorlage und orientiert sich auch ästhetisch an der monochromen Tristesse seines Kollegen Alberto Rodriguez.

Glaubhafte Charaktere

Die politische und soziale Atmosphäre der beiden historischen Settings ist annähernd vergleichbar. Wie Rodriguez beschreibt auch Alvart die Zeit direkt nach einem Systemwechsel als moralischen Schwebezustand, in dem sich einer wie der Wessi Patrick Stein erst überlegen, dann überfordert fühlt, weil Leute wie der Ex-Stasi-Scherge Bach die Vergangenheit nicht einfach abstreifen wie eine schmutzige Hose, sondern Teile des alten Wertesystems hinüberretten möchten in die neue Zeit.

Aus dieser ethisch-moralischen Irritation beziehen beide Filme inhaltlich ihre Wucht. Alvart („Pandorum“, „Tschiller: Off Duty“, „Dogs of Berlin“), der schon in Hollywood sein Talent für Genreproduktionen unter Beweis gestellt hat, liefert aber unabhängig von der spanischen Vorlage noch präzisere Zeichnungen seiner beiden Hauptcharaktere und verwurzelt sie psychologisch tief im Nachwendemorast. Die Figur des zwar verrohten, zugleich aber von einer Krebserkrankung und der eigenen Schuld zerfressenen Ostpolizisten ist in Felix Kramers Darstellung glaubwürdig zwiegespalten.

Hässliche Konflikte

Trystan Pütters äußerlich glatter, überkorrekter Ermittler Stein ringt dagegen mit seiner Angst vor der Verantwortung als junger Familienvater und scheitert fast an den eigenen, überzogenen Ansprüchen. Je tiefer er in den Fall eindringt, desto mehr entgleitet ihm das Ideal der bürgerlichen Existenz mit Frau und Kind.

Weil Christian Alvart diese inneren und äußeren Konflikte in all ihrer Hässlichkeit abbildet statt sie mit den braven und vertrauten Formeln des deutschen Vorabendkrimis auf ein allgemein bekömmliches Maß herunterzubrechen, ist „Freies Land“ nicht nur das überzeugende Remake eines sehr guten Originals. Der Film ist vielmehr ein eigenständiges, aufrichtig ruppiges Werk über den deutschen Zeitgeist der Wendejahre.

Freies Land. Deutschland 2019. Regie: Christian Alvart. Mit Felix Kramer, Trystan Pütter, Nora von Waldstätten. 128 Minuten. Ab 16 Jahren.