In seinem Historiendrama „Intrige“ rollt Roman Polanski die berühmt gewordene Dreyfus-Affäre aus Sicht eines Antisemiten auf. Die akribische Rekonstruktion des Falls packt den Zuschauer, doch die Vergangenheit des Regisseurs überschattet die Debatte um den Film.

Stuttgart - Die Formel „In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten“ kannte man schon im 17. Jahrhundert. Umso schlimmer, wenn Angeklagten heute noch ein ordentliches Verfahren verweigert wird. Eine unvoreingenommene Behandlung durch seine Zeitgenossen fordert auch der durch sexuelle Missbrauchsvorwürfe in seinem Leumund schwer beschädigte Regisseur Roman Polanski. Man wolle aus ihm ein Monster machen, klagte er dem französischen Magazin „Paris Match“ im Dezember 2019, nachdem die Schauspielerin und Fotografin Valentine Monnier pünktlich zu Polanskis neuem Film „Intrige“ eigene Vorwürfe publik gemacht hatte.

 

Monnier ist eine von sechs Frauen, die dem 1933 in Paris geborenen Polanski schwere Sexualdelikte anlasten. Der Filmemacher räumte jedoch nur den Missbrauch an Samantha Geimer im Jahr 1977 ein. Ob Polanski unschuldig ist oder tatsächlich mehrere Frauen zu sexuellen Handlungen gezwungen hat, lässt sich kaum mehr nachvollziehen, zumal sich die Übergriffe zwischen 1972 und 1986 ereignet haben sollen. Die fehlende Aufklärung macht jedoch nicht nur Polanski und dessen mutmaßlichen Opfern zu schaffen, sondern auch der Öffentlichkeit. Unterm Eindruck der Metoo-Enthüllungen tut sie sich schwer, Polanskis Leistungen als Künstler gesondert von den harschen Vorwürfen zu betrachten. Dabei verdient „Intrige“, die Verfilmung des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Harris, Beachtung – jenseits des Interesses an Polanskis mutmaßlichen Sexualstraftaten.

Aufklärer im Zwiespalt

„Intrige“ schildert den historischen Justizskandal um den jüdischen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der 1894 vom Kriegsgericht in Paris des Landesverrats schuldig gesprochen und auf die Teufelsinsel verbannt wurde. Das Besondere des für zwölf Césars nominierten Films: Roman Polanski rollt den berühmten Kriminalfall aus Sicht von Marie-Georges Picquart auf, des antisemitisch eingestellten Obersts und damaligen Leiters des französischen Auslandsgeheimdienstes, gespielt von Jean Dujardin.

Der aus dem Elsass stammende Jude Dreyfus soll militärische Geheimnisse ans deutsche Reich übermittelt haben. Picquart entdeckt per Zufall, dass die Deutschen auch nach Dreyfus’ Verbannung noch Informationen bekommen; als Spion kommt der unehrenhaft entlassene Hauptmann deshalb nicht mehr in Frage. Picquart steht offen zu seinem Widerwillen gegen Juden, zugleich pocht er auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und widersetzt sich seinen Vorgesetzten, die die Akte Dreyfus für immer in den Giftschrank räumen wollen.

Manche werteten Polanskis Auseinandersetzung mit dem bis heute spektakulären Fall als Versuch des 86-Jährigen, Parallelen zu ziehen zwischen der eigenen Geschichte und der des zu Unrecht verurteilten, erst spät rehabilitierten Hauptmanns Dreyfus. Dabei geht es Polanski offenkundig um die sachliche, historisch korrekte Darstellung der Affäre als besonders abschreckendes Beispiel antisemitisch motivierter Vorurteilsbildung.

Polanski feiert ethisch-moralische Prinzipien

Mit akribischem Detailreichtum lässt der Regisseur in Zusammenarbeit mit dem Autor Robert Harris das chauvinistisch-nationalistische Milieu des französischen Militärs auferstehen, das im Aufwind eines europaweiten Judenhasses bereitwillig jüdische Mitglieder aus den eigenen Reihen tilgt. Wie die meisten Armeemitglieder ist der Charakter des Dreyfus hier nur als Umriss angelegt; Louis Garrel spielt ihn als stillen, pflichtbewussten Mann, der seiner Familie Leid ersparen will, in seinen wenigen Auftritten aber kaum das Mitgefühl des Publikums gewinnen kann.

Die bewusst unterkühlte, von Emotionen unbelastete Sicht auf die ungeheuerlichen Vorgänge ist jedoch unzweifelhaft die Stärke des Films: In „Intrige“ geht es nicht um persönliche Sympathien, sondern um ethisch-moralische Prinzipien. Und sie, das machen Polanski und Harris deutlich, wurden in der Causa Dreyfus mit Füßen getreten. So trocken das auch klingt, die dialogreiche Erzählung ist erstaunlich unterhaltsam und spannend. Mit bitterem Humor zeichnet Polanski die spitzen Hierarchien und starren militärischen Rituale nach. Die Arbeit des Auslandsgeheimdienstes wird als hässliches Spitzelgeschäft vorgeführt, betrieben von emsigen Apparatschiks.

Obwohl die Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts fremd wirkt, kann sie mühelos an unsere Gegenwart anknüpfen. So erinnert die Figur des Aufklärers Picquart an heutige Whistleblower, die mit ihrem unbequemen, nie zu stillenden Erkenntnishunger das Machtgefüge stören. Der teils offene, teils unterschwellige Antisemitismus, die Skepsis und Angst vorm Fremden, die nationalen Reinheitsfantasien – all das ist bis heute europaweit wirksam. Dass ein Film diese Probleme klar, schnörkellos und ohne sentimentale Formeln beschreibt, ist selten. Das Schlechte, das dem Filmemacher Roman Polanski mutmaßlich angelastet werden kann, macht das nicht wett. Aber dieser Film ist die gute Seite der zweifach geprägten Medaille.