Die Diözese Rottenburg gibt in der NS-Zeit gestohlene Glocken zurück. Das einzigartige Projekt soll der Versöhnung dienen.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Aichtal-Grötzingen - Wie nahe ihm das Thema geht, und wie wichtig ihm das Vorhaben ist, ist Gebhard Fürst anzumerken. Sichtlich bringt den Bischof noch die Gewalt der Vergangenheit auf. Man spürt: er will der Versöhnung den Weg bahnen und er möchte wohl auch, dass endlich wieder mehr beachtet wird, welch’ wertvolle Arbeit in der katholischen Kirche geleistet wird. „Wir wollen Unrecht wieder gut machen und einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten“, sagt Fürst beim offiziellen Start des Projekts „Friedensglocken für Europa“. In dessen Rahmen gibt die Diözese Rottenburg-Stuttgart in den nächsten sechs Jahren Glocken wieder an ihre Ursprungsgemeinden im heutigen Polen und in Tschechien zurück, die einst von den Nationalsozialisten geraubt worden waren.

 

Was sich nach einer verhältnismäßig einfachen Sache anhört, ist ein aufwendiges Unterfangen. Dieses wäre vermutlich nie verwirklicht worden, wenn es Fürst nicht seit 2011 ein Herzensanliegen wäre. In dem Jahr entdeckte man bei Renovierungsarbeiten im Rottenburger Dom überraschend eine Glocke aus Polen. „Ich wollte diese unrechte Geschichte unbedingt zum Guten wenden“, erzählt Gebhard Fürst heute. Deshalb entschloss er sich zur Rückgabe, reiste mit einer kleinen Delegation nach Polen und erlebte, wie tief berührt die Menschen dort reagierten. Die Glocke, so Fürst, sei zu einem Symbol der Hoffnung geworden.

Die ältesten Glocken sind mehr als 500 Jahre als

Anschließend war zu erheben, wie viele Raub-Glocken es überhaupt noch gibt, wo sie hängen und vor allem, wo sie herkommen, berichtet der Projektleiter Hans Schnieders. Überwiegend seien die Glocken historisch bedeutsam. „Die ältesten sind mehr als 500 Jahre alt.“ Alle sind Reste der schätzungsweise 100 000 Glocken, die die braunen Machthaber 1940 im gesamten damaligen Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten für die Rüstungsindustrie beschlagnahmten. „Das Ausmaß der Glockenvernichtung ist kaum vorstellbar“, sagt Schnieders. Allein in der Diözese gingen in den Kriegsjahren so rund 2800 Glocken unwiderruflich verloren. Einige der nicht von den Nazis eingeschmolzenen Glocken aus den ehemaligen Ostgebieten gelangten schließlich nach dem Krieg leihweise in die Kirchengemeinden. Zwei Eisenbahnwaggons brachten Mitte März 1952 genau 67 dieser Glocken in die Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ursprünglich sollten sie wohl irgendwann zurückgegeben werden. Doch die Absicht geriet in den Wirren der Aufbauzeit ebenso in Vergessenheit wie die Herkunft der Glocken. Ein paar Mal gab es hernach allerdings Anfragen aus den Heimatgemeinden. Deshalb sind einzelne Glocken schon zurückgegeben worden.

Die Initiative geht von Rottenburg aus

Nun geht die Initiative zur Rückgabe aber von Rottenburg aus. Man informiere die insgesamt betroffenen Kirchengemeinden umfassend, sagt Schnieders, etwa über die Besonderheit und die Geschichte der jeweiligen Glocke. Der Bischof nehme Kontakt mit dem jeweiligen Bischof in Polen oder Tschechien auf. Treffe er auf positive Resonanz, werde nicht nur die Übergabe, sondern auch der gegenseitige Austausch organisiert. Und es werden natürlich Ersatz-Glocken gegossen. 400 000 Euro pro Jahr lässt sich die Diözese das Vorhaben kosten.

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Zum offiziellen Auftakt ist Fürst mit seinen Amtsbrüdern Jacek Jezierski aus Polen und Martin David aus Tschechien nach Aichtal-Grötzingen im Kreis Esslingen gekommen. Denn in der Kirche Maria Hilfe der Christen hingen dort bisher – und das ist ziemlich ungewöhnlich – Glocken aus beiden Ländern. Eine stammt aus dem polnischen Frombork und eine aus Píštʼ. Ihr Ersatz ist symbolträchtig unter anderem mit zwei Friedenstauben gestaltet. Die alten und die neuen Glocken werden in einem feierlichen Gottesdienst als Friedensglocken gesegnet. Sowohl Jezierski als auch David betonen, dass die Resonanz auf das Rottenburger Vorhaben in ihren Diözesen sehr gut sei.

Es wird nicht immer zur Rückgabe der Glocken kommen

Nicht immer allerdings wird es zur Rückgabe kommen. So segnet David diesen Samstag ebenfalls eine Friedensglocke in Sulz am Neckar. Denn auch dort hängt eine Glocke auch Píštʼ. Doch die Kirchengemeinde hat beschlossen, sie an Ort und Stelle zu lassen – ebenfalls als Ausdruck der Völkerverständigung. Jezierski wiederum segnet am selben Tag zwei weitere Glocken in Oberesslingen.

Fürst hat über das Projekt übrigens auch in der Deutschen Bischofskonferenz gesprochen. Von Nachahmern in anderen deutschen Bistümern ist ihm aber nichts bekannt. Auch die Evangelische Kirche in Württemberg ist noch nicht so weit. Sie nimmt das Projekt Friedensglocken zum Anlass, um zu recherchieren, wie viele Raubglocken in evangelischen Kirchen schlagen.

Glocken für den Kriegseinsatz

Beschlagnahmung
 Schätzungsweise 100 000 Glocken mussten von März 1940 an auf Anordnung des damaligen Reichsmarschalls Hermann Göring von den Kirchtürmen abgehängt werden. Sie dienten als Metallreserve für die Rüstungsindustrie. Die meisten von ihnen wurden hernach zerstört.

Rückgabe
 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben bundesweit etwa 16 000 Glocken davon erhalten. Zum Teil hatten sie große Schäden. Viele gelangten später in ihre Heimatgemeinden. Rund 1300 verblieben aber auf dem „Glockenfriedhof“ im Hamburger Hafen. Vom Jahr 1950 an wurden diese wiederum Kirchengemeinden in Westdeutschland leihweise gegeben.