Der „Abhol-Streik“ zieht Kreise: Nachdem Oberbürgermeister Bernd Hornikel von Nötigung gesprochen hat, bietet der Verband der Kita-Fachkräfte seine Hilfe an. Unterdessen keilt die Elternschaft zurück.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

In der Betreuungsbranche kennt sich Anja Braekow bestens aus. Die aus dem südbadischen Rheinfelden stammende Erzieherin hat nach jahrelanger Tätigkeit als pädagogische Fachkraft nicht nur selbst eine Kindertagesstätte gegründet. Ehrenamtlich engagiert sie sich neben dem Job im vor zwei Jahren mit einigen aktiven Mitstreiterinnen aus der Taufe gehobenen Verband der Kita-Fachkräfte in Baden-Württemberg.

 

Die Sorgen der Elternschaft sind der begeisterten Laienschauspielerin, Jahrgang 1975, deshalb ebenso wenig fremd wie die Nöte des Personals. Auch Auseinandersetzungen um den pädagogischen Kurs hat die erfahrene Kindergartenfachwirtin in ihrer beruflichen Laufbahn durchaus erlebt. Eine derart verfahrene Situation wie in Schorndorf aber ist Anja Braekow bisher nicht untergekommen. „Mir blutet das Herz, das ist ja schlimm“, sagt die Erzieherin über die seit Wochen tobenden Konflikte zwischen Elternschaft und der Stadtverwaltung.

„Mir blutet das Herz, wenn ich das höre“, sagt eine Erzieherin

Weil die Familien sich nicht damit abfinden wollen, dass in ihrem Hort wegen der Engpässe beim Personal bereits früher Schluss sein soll, holen einige Eltern ihre Sprösslinge offenbar ganz bewusst nicht mehr pünktlich aus der Kindertagesstätte ab. Reihenweise wartet der Nachwuchs aus dem Ganztagsbetrieb vergeblich auf Mama oder Papa, wenn die Erzieherinnen am Nachmittag um 15.30 Uhr den Schlüssel herumdrehen wollen. Normalerweise sind die Gruppen mit der verlängerten Öffnungszeit in Schorndorf bis 17 Uhr geöffnet – ein Service, den sich die Stadt durch erhöhte Betreuungsgebühren bezahlen lässt.

Für Fachkräfte wie Anja Braekow ist das ein unhaltbarer Zustand, und zumindest für den Südwesten eine traurige Premiere. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Was da passiert, ist eine Katastrophe – und zwar egal, aus welchem Blickwinkel man das betrachtet“, bewertet die Verbandsvorsitzende die Auseinandersetzung. Weil es sich bei der im Januar so gut wie täglich vorkommenden Überziehung der Schlusstermine nicht um Ausnahmefälle handelt, ist in Schorndorf von einem „Abhol-Streik“ die Rede.

In der Lokalpolitik herrscht Empörung über die renitenten Eltern

In der jüngsten Sitzung des Gemeinderats kritisierten Rathausspitze und Lokalpolitik das Verhalten der Erziehungsberechtigten in ungewohnter Schärfe. Gefordert wurden „Maßnahmen gegen Missbrauch“, Oberbürgermeister Bernd Hornikel sah die Grenze zur Nötigung erreicht. Quer durch die Fraktionen wurde Empörung laut, dass in Einrichtungen, in denen wegen Personalmangels ohnehin schon Land unter ist, nun auch noch Überstunden angeordnet werden müssen. An ausnahmsweise auf dem Weg vom Arbeitsplatz zur Kindertagesstätte im Berufsverkehr steckende Eltern glaubt im Rathaus niemand. Im Gegenteil: gleich mehrere Sprecher sehen eine üble Trotzreaktion der Familien, beklagt wird, dass der Streit um die Öffnungszeiten auf dem Rücken von Kindern und Erzieherinnen ausgetragen wird. Während die Grünen feststellen, dass der Zweck nicht in jedem Fall die Mittel heiligt, spricht die CDU von einer Respektlosigkeit. „Da muss es Elternarbeit geben, es wird einem himmelangst“, hieß es.

Die Stadtverwaltung nutzte die Sitzung, sich einen Katalog mit Sanktionen gegen die Elternschaft absegnen zu lassen. Wird ein Kind mehr als zehn Minuten nach dem Ende der Betreuungszeit nicht abgeholt, spricht die Einrichtung künftig eine Abmahnung aus. Bei drei Abmahnungen binnen eines Kindergartenjahrs wird das Kind für einen Tag vom Besuch ausgeschlossen. Beim vierten Wiederholungsfall kann die Stadt der Familie den Stuhl vor die Tür setzen – das Betreuungsverhältnis wird mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsende beendet.

Geprüft wurde eine Strafgebühr für unpünktliche Eltern

Geprüft wurde in Schorndorf auch eine Strafgebühr nach Ludwigsburger Vorbild. Dort müssen notorisch zu spät kommende Eltern exakt 30 Euro für jede halbe Stunde Verspätung berappen. In der Daimlerstadt verwarf die Verwaltung den Gedanken an einen Überstunden-Aufschlag wieder – wegen des bürokratischen Aufwands und der möglichen Weigerung säumiger Eltern.

Die keilen inzwischen kräftig zurück und werfen der Führungsspitze im Rathaus neben Vertragsbruch vor, keinerlei Rücksicht auf das Seelenleben der Kinder zu nehmen. „Wir haben die deutlich teurere Betreuung bis 17 Uhr nicht grundlos gebucht, sondern eine Verpflichtung unseren Arbeitgebern gegenüber. Gerade bei extrem kurzfristigen Änderungen der Abholzeiten ist ein früherer Termin für berufstätige Eltern schlicht nicht umsetzbar“, heißt es in einem Brief aus der Kindertagesstätte „Hinter dem Zaun“.

Von einem Streik kann aus Sicht der Eltern keine Rede sein. Es handle sich vielmehr um die Einforderung der vertraglich vereinbarten Betreuungszeit. „Wir haben unsere Notlage in mehreren Briefen und Telefonaten geschildert. Nachdem wir unsere beiden Kinder wie mitgeteilt nicht um 15.30 Uhr abholen konnten, wurde mir vom Fachbereitsleiter telefonisch mit der Polizei gedroht“, schreibt ein aufgebrachter Vater.

Ein Vater will vom Polizeiposten befragt worden sein

Tatsächlich sei er kurze Zeit später vom lokalen Polizeiposten angerufen und nach seinen Motiven befragt worden. „Unsere Kinder sollten also wirklich von einer Streife heimgebracht werden und hätten, da wir nun mal ganztags und auch nicht in Schorndorf arbeiten, ihren Nachmittag auf dem Revier verbracht. Unvorstellbar, welchen Schaden die Stadt den Kindern zugemutet hätte“, schreibt die erboste Familie – und blickt nach eigenen Worten mit Spannung auf die juristische Klärung der aus Elternsicht „willkürlichen Auflagen“. Schließlich begehe die Stadt einen Vertragsbruch, wenn sie die Betreuungszeiten einseitig reduziere.

Der in Schorndorf für den Sozialbereich zuständige Erste Bürgermeister Thorsten Englert hält die Darstellung aus der Elternschaft für überzogen bis unwahr, jedenfalls aber für falsch. „Für uns war von Anfang klar, dass wir kein Kind in einen Streifenwagen setzen werden. Deshalb haben wir intern Überstunden angeordnet und das sachliche Gespräch mit den Eltern gesucht“, nimmt er Stellung zu dem Vorwurf. Nachdem die ersten Kinder bewusst zur üblichen Abholzeit und damit deutlich verspätet geholt wurden, habe die Stadt selbstverständlich geprüft, welche Handhabe es gebe. Deshalb habe die Verwaltung mit dem Jugendamt und auch mit der Polizei gesprochen und sich überdies juristischen Rat geholt. „Ich kann nur noch einmal an die Eltern appellieren, die für uns alle unbefriedigende Situation nicht auf dem Rücken der Kinder auszutragen. Wir als Stadt arbeiten täglich mit Hochdruck daran, geeignetes Personal zu gewinnen.“

Wie geht es nun weiter?

Anja Braekow kann über die verhärteten Fronten nur den Kopf schütteln. „Was in Schorndorf jetzt dringend geboten wäre, ist ein Dialog, an dem Eltern, Fachkräfte und die Stadtverwaltung an einen Tisch kommen“, sagt die Kindergarten-Fachfrau – und bringt sich als Mediatorin einer derartigen Runde ins Gespräch. Eine Belastungsprobe sei das vergiftete Klima nämlich nicht nur für die betroffenen Erzieherinnen, auch die Kinder würden unter dem Streit leiden. „Eigentlich wollen wir doch alle, dass die Kinder einen guten Tag erleben“, sagt die Erzieherin.