Es sollte ein Routineeingriff sein an dem dreijährigen Jungen, doch an der Uniklinik Tübingen lief einiges schief. Jonas überlebt die Operation nur wenige Tage. Seine Eltern Lukas und Stefanie Boboschko haben geklagt – mit einem erstaunlichen Ergebnis.

Großbettlingen - Eine Haarsträhne von Jonas haben die Eltern aufgehoben. Sie ist blond, steckt in einem Probenbecher, wie sie in Kliniken verwendet werden. „Die haben wir zur Erinnerung abgeschnitten“, sagt Lukas Boboschko und erzählt, dass sein Sohn bereits hirntot auf der Intensivstation der Tübinger Uniklinik lag, als sie zur Schere gegriffen haben. Jonas, ein frecher Kerl, der am liebsten Feuerwehr spielte mit Playmobilfiguren, ist gerade mal drei Jahre alt geworden – er starb im Juni 2018 an den Folgen einer Mandeloperation. Ein Routineeingriff, aber im Fall des kleinen Jonas lief so manches schief.

 

Es habe alles harmlos angefangen, sagen Stefanie und Lukas Boboschko und können nicht fassen, warum ihr Sohn sterben musste. Die beiden, er Pilot, 40 Jahre alt, sie Stewardess und ein Jahr jünger, wohnen in Großbettlingen, nur eine halbe Stunde vom Flughafen entfernt. Die achtjährige Lea hat sich nach oben zum Spielen verzogen, Baby Leonas krabbelt unterm Tisch. Die Eltern erzählen im Wohnzimmer, wie sie sich wunderten, dass Jonas nicht sprechen wollte. Er habe nur wenige Wörter beherrscht, war tief in seine Welt versunken. Ein Besuch bei einer Reutlinger HNO-Ärztin brachte Klarheit: der Kleine hörte schlecht, bei ihm hatte sich Flüssigkeit hinter dem Trommelfell gesammelt, ein Paukenerguss, wie ihn viele Kinder haben.

Eine erste Operation brachte nur kurzzeitig Besserung

Auf die Diagnose folgte eine Odyssee von einem Mediziner zum anderen. Eine erste Operation im Februar 2017 an der Tübinger Lorettoklinik, bei der die Flüssigkeit abgesaugt wurde und die Rachenmandeln verkleinert wurden, brachte nur kurzzeitig Besserung und die Auskunft des Arztes, dass es etwas geblutet habe während des Eingriffs. Erfolgreicher war die zweite Behandlung drei Monate später an der Uniklinik Tübingen. Zwei Paukenröhrchen zur Drainage erhielt Jonas fürs Ohr, noch einmal wurde die Wucherung im Rachen operiert. Danach sei Jonas wie verwandelt gewesen und habe schnell aufgeholt beim Sprechen, erinnert sich Boboschko, „es war ein ganz neues Leben.“

Bis heute machen sich die Boboschkos Vorwürfe, dass sie zu sehr auf die Ärzte gehört haben und zu wenig auf ihre eigene Intuition. „Ich war immer gegen die Mandeleingriffe“, sagt der Familienvater und hat dennoch zugestimmt, als im Juni 2018 eine dritte Operation anstand. Die Röhrchen mussten ausgetauscht werden, wieder ging es an die Uniklinik und wieder schien erst mal alles bestens, auf Anraten des Arztes waren erneut die Mandeln verkleinert worden. „Wir haben einen Brief bekommen, dass die Operation ohne Komplikationen verlaufen sei“, erzählt Stefanie Boboschko und war damals froh, noch am gleichen Tag mit ihrem Sohn zurück nach Hause zu dürfen.

Aus dem Mund von Jonas tropfte plötzlich Blut

Der Horror begann drei Tage später, als abends auf dem Bett Blut aus dem Mund ihres Sohnes tropfte. Große Flecken auf dem Laken, auch im Bad konnte Stefanie Boboschko die Blutung nicht stillen. „Ich habe den Notruf gewählt, aber da war anfangs belegt“, sagt sie.

Sie muss zuschauen, wie ihr Sohn an Kräften verliert, die Lippen blau werden. Geistesgegenwärtig ruft sie ihre Nachbarin an, die sich als Schwimmtrainerin mit Erster Hilfe auskennt. „Als er ohnmächtig wurde, haben wir mit Wiederbelebungsversuchen angefangen“, sagt Boboschko. Irgendwann schicken Rettungssanitäter sie aus dem Badezimmer. Mit einem Hubschrauber kommt der bewusstlose Junge wenig später in die Tübinger Uniklinik. Am nächsten Tag steht fest, dass Jonas nicht mehr geholfen werden kann. Zu lange ist sein kleines Herz stillgestanden, durch den Sauerstoffmangel ist sein Gehirn schwer geschädigt. Die Eltern stimmen zu, dass die Geräte abgestellt werden.

Nach dem ersten Schock entscheiden die Boboschkos, das zu wagen, was in Deutschland meist wenig Aussicht auf Erfolg hat: eine Schadensersatzklage gegen die Ärzte und die Klinik. Am Landgericht Tübingen sitzen sie Mitte Juli dem Operateur gegenüber, ihre Blicke treffen sich selten. Nur in wenigen Fällen gelingt es, medizinische Fehler nachzuweisen, aber die Rechtsanwältin der Familie und die Eltern sind hartnäckig. „Die haben die Probleme mit der Blutung nicht ernst genug genommen“, sagt Lukas Boboschko, es hätte ein großes Blutbild gemacht werden müssen. „Da gab es ganz klar grobe Behandlungsfehler.“

Eine Gerinnungsdiagnostik wäre verpflichtend gewesen, sagt der Gutachter

Rückendeckung bekommen die Eltern von einem Gutachten. Bei dem Dreijährigen habe höchstwahrscheinlich eine genetisch bedingte Blutgerinnungsstörung vorgelegen, das Willebrand-Jürgens-Syndrom, heißt es dort. Da die Mutter im Vorfeld der Operation auf einem Fragebogen die Nachblutungen angegeben hatte, wäre eine Gerinnungsdiagnostik verpflichtend gewesen, erläutert der Gutachter Matthias Tisch, Ärztlicher Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Für medizinisch nicht angemessen hält er die Mandeloperation, zumal sich die medizinischen Leitlinien vor Kurzem geändert hätten. Ein Eingriff am Ohr hätte genügt, betont er, sein Fazit ist drastisch. „Im vorliegenden Fall ist es zu einer fatalen Kaskade falscher Entscheidungen gekommen, die mutmaßlich den tödlichen Ausgang der Operation herbeigeführt haben.“

Die Urteilsverkündung Mitte September ist abgesagt, beide Seiten haben sich auf einen Vergleich geeinigt. „Das ist ein Dämpfer für den Arzt, der sich eingestehen musste, dass er Mist gemacht hat“, sagt Lukas Boboschko. 62 500 Euro werden den Eltern überwiesen, „lächerlich für ein Menschenleben“, urteilt der Vater und hätte sich etwas anderes gewünscht: eine Entschuldigung von den Ärzten.