Der achtjährige Nick Hamm aus Musberg steht in Möhringen mit den Großen auf der Musicalbühne. Ehe es losgeht, muss er aber ein strammes Programm durchziehen.

Möhringen - Später wird er quasseln, bis die Ohren bluten, und durch die Flure hüpfen, als hätte er einen Flummi im Hintern. Er wird singen, schreien, krabbeln, Räder schlagen. Er wird in seine Rolle schlüpfen, nein, er wird in sie springen, wie in den Lederschurz um seine Hüfte, wird sich verstecken unter Kunstfarbe und einer Perücke, so groß wie sein Brustkorb. Nick Hamm, acht Jahre alt, aus Musberg, sitzt in der Cafete, irgendwo in den Eingeweiden des Apollo Theaters. Er spielt den kleinen Tarzan, nachher, in zwei Stunden, vor so um die tausend Leuten. Aber jetzt, in diesem Moment, gilt seine Aufmerksam dem Checker Tobi.

 

Der sitzt am Nachbartisch, legere Jeans, Freizeitschuhe, lässig den Schal um den Hals, und stochert in seinem Essen. Checker Tobi arbeitet fürs Fernsehen, erklärt auf Kika die Welt, macht den Flüchtlings-Check, den Cowboy-und-Indianer-Check, und heute war er für einen Dreh in Möhringen, für einen Musical-Check. Nick erkennt ihn sofort, bittet um ein Selfie. „Ich kenn den gar nicht“, sagt seine Mutter Cornelia Hamm.

Einige Doofköpfe in der Schule hänseln ihn

Es ist 17.30 Uhr, Nick streicht sich die dunkle Strähne aus dem Gesicht, und beantwortet artig die Fragen. Mit am Tisch sitzen Thomas Hirschfeld, künstlerischer Leiter für die Kinderdarsteller, und Sarah Konzept, die Pressefrau des Hauses. Der eine achtet auf den kleinen Nick, die andere auf den Journalisten. „In meiner Schule kennen sie mich schon als Tarzan“, sagt Nick. „Ältere Schüler hänseln mich und sagen“ – jetzt quietschend und mit dem Kopf wackelnd – „da kommt der Tarzan.“ Ihm sei das egal. Und auch in seiner Klasse „gibt es so drei Doofköpfe“.

Seit er fünf ist, wollte Nick auf die Bühne. Zweimal wurde er wieder nach Hause geschickt, weil er zu jung war. Beim letzten Casting hat es geklappt. Seit dem 21. November gehört er zur Crew. Er ist einer von zwölf kleinen Tarzans, die abwechselnd auf der Bühne stehen. Monatelang musste er dafür proben. Alle anderthalb Wochen hat Nick nun einen Auftritt.

Um 18 Uhr geht es in die Eingeweide des Apollo Theaters

Lampenfieber habe er nur ganz am Anfang gehabt, bei seiner Premiere, und da auch nicht lang. Meint er zumindest. „Auf der Bühne war das gleich weg“, sagt er und gautscht auf dem Stuhl hin und her. „Die Leute in der ersten Reihe sehe ich noch ein bisschen“, sagt er. Die zweite Reihe verschluckt schon das Dunkel. „Aber ich guck eh nicht ins Publikum. Ich muss mich ja auf meine Sachen konzentrieren.“

Die Uhr tickt gen 18 Uhr. Jetzt wird’s Zeit. Die Mutter geht nach Hause und wird später wieder kommen, so gegen 23 Uhr. Der Rest des kleinen Trupps setzt sich in Bewegung, vorbei an der Küche, im Treppenhaus einen Stock hoch, vierte Tür rechts, Klamotten ausziehen, dann wieder den Gang in die andere Richtung, vorbei an Jane, erwachsen, die nett winkt und im Bademantel steckt, und rein in die Maske.

Erst schnecken, dann Text üben, dann noch der Schrei

„Wir schnecken ihn jetzt, damit die Perücke auf seinen Kopf passt“, sagt Michael Badent, den Strumpf in der Linken, die Haarklammer in der Rechten. Zusammen mit Aisleen Sealy macht er sich über Nicks Haare her, bändigt die Strähnen, bereitet alles für die nächsten Schritte vor. Nick nuckelt geduldig an seiner Wasserflasche, beäugt sich im Spiegel, und ist für knappe fünf Minuten, die einzigen an diesem Abend, doch tatsächlich still. Die Klimaanlage an der Decke summt, ein Bildschirm in der Ecke über der Tür zeigt die Bühne. Sie ist grün und leer.

Nächste Station Kinderzimmer. Die Erwachsenen kennen ihre Rollen aus dem Effeff. Die Kinder haben aber nur alle paar Tage einen Auftritt. Es ist an Thomas Hirschfeld, sie stets aufs Neue einzustimmen. Das Büro hat die Größe eines Kleiderschranks, zumindest gefühlt, mit einem Sofa an der Wand. Auf dem Tisch liegt ein Ordner mit Notizen vom letzten Mal. „Merk dir“, sagt Hirschfeld, „aufrecht sitzen, noch deutlicher sprechen, noch tiefer sprechen.“ Hinter jede Anmerkung hat er einen Smiley gemalt, ein lachendes Gesicht. Nick, jetzt wieder ganz Flummi, schmettert einen Tarzanschrei an die Decke, ehe er seinen Text aufsagt und gorillagleich über den Teppich rollt.

Noch 50 Minuten bis zum Beginn der Show

Willkommen im Rig Junior, zu deutsch Kinderaufbau. Gerüste lehnen an den Wänden, reichen geschätzt zehn Meter in die Höhe, von der Decke baumeln Seile, der Boden ist ein weicher, federnder Teppich, umhüllt von schwarzem Tuch. Nick wärmt sich auf, biegt sich, krümmt sich, macht den Ape Run, das Affenrennen, auf allen Vieren, einmal diagonal über die Matte. „Hier lernen alle jungen Tarzans die Flugeinlagen, das ist die Trainingsanlage“, sagt Sarah Konzept. Nebenan gibt es noch einmal eine solche Anlage, nur größer. Es ist 18.40 Uhr. Noch 50 Minuten.

Wieder in die Eingeweide des Theaters. Zwei Stockwerke runter, durch eine große, schwere Tür, Typ Lagerhalle, und es öffnet sich eine weitere Halle, mit einem Spiegel entlang der gesamten Wand und einem schwarzen Flügel. Keine 30 Sekunden später kommt Jochen Neuffer, der heute der Dirigent ist, durch dieselbe Tür, legt seinen Schlüssel und seinen Geldbeutel aufs Klavier, setzt sich vor die Tasten. Nicht nur der Körper muss aufgewärmt werden, sondern auch die Stimme. „So, jetzt gähnen wir mal“, sagt er. Nick gähnt. „Jetzt mit der Stimme ganz hoch.“ Es folgen: „Durch die Nase atmen“ und „jetzt ein wenig schütteln.“ Ein Darstellerkollege, wohl ein Affe mit blauen Zacken im Gesicht und schwarz geschminkten Augenhöhlen, gibt ihm noch einige Tipps mit auf den Weg.

Das Mikrofon verbirgt sich unter der Perücke

Begegnung auf dem Flur: „He, Thomas, ich glaub, ich hab mir was gezerrt“, sagt eine Frau in Jeans und Hemd, offensichtlich keine Darstellerin, zumindest nicht heute Abend. „Gestern hatte ich auch einen Muskelkater“, sagt Nick und huscht vorbei.

„Bei ,New York’ hatten wir auch mal so ein Kind, da haben dir die Ohren geblutet“, sagt Thomas Hirschfeld, formt mit seinen Händen einen Kopfhörer und lacht. Nick erzählt derweil irgendwas über Klingelstreiche, die er mit seinem Freund gemacht hat. Es ist 19.13 Uhr, wieder in der Maske stülpt ihm Aisleen Sealy die Perücke über, die mit den dicken Dreadlocks. „Und jetzt noch mal aufs Klöchen mit dem Popöchen“, sagt Hirschfeld. Nick springt los, ohne Latschen, dafür immer noch irgendwas plappernd, ehe seine Stimme von der sich schließenden Tür verschluckt wird.

Die letzte Station bleibt Nick und seinem Betreuer vorbehalten. Im Kinderzimmer steht die Uhr auf 19.30. Durch den Lautsprecher an der Decke schwappt stürmische See. Im ersten Akt schippert ein Schiff nach Afrika, Tarzan ist ein Baby, seine Eltern sind an Bord. Nicks Auftritt beginnt in zehn Minuten, er wird die Bühne von unten betreten, ein Aufzug hievt ihn direkt ins Geschehen. Er winkt ein letztes Mal. „Er muss jetzt runterkommen“, sagt Sarah Konzept und schiebt den Journalisten aus dem Zimmer.