Die urbane Mittelschicht in Schweden empfindet „Flugscham“ und hat „Klimaangst“. Auch viele Prominente bekennen sich als Flugzeugverweigerer. Doch hat die Debatte auch tatsächlich Auswirkungen auf das Fahrgastaufkommen in der Luft?

Stockholm - Mit ihrer Rede in Kattowitz hat sie wieder einmal Furore gemacht: die 15-jährige Greta Thunberg aus Stockholm. „Euch gehen die Entschuldigungen aus, uns die Zeit“, so hat die Umweltaktivistin die Ergebnisse der Klimakonferenz kritisiert. Ihre Brandrede wurde in den sozialen Medien zum Hit.

 

Wegen ihrer Sorge um das Klima hat Greta Thunberg vor den schwedischen Parlamentswahlen im September wöchentliche Schulstreiks durchgeführt und damit weltweit Nachahmer gefunden. Sie hat die Begriffe „flygskam“ (Flugscham) und „klimatångest“ (Klimaangst) auch außerhalb Skandinaviens bekannt gemacht.

Die sensiblen Schweden würden jeden Tag an das Weltklima denken und auf Flugreisen verzichten, war in den schwedischen Medien zu lesen. Auch habe die schwedische Bahn deutlich mehr Passagiere als vor einem Jahr. Das stimmt in Bezug auf einige Strecken und die Nachtzüge. Doch ob das erhöhte Fahrgastaufkommen wirklich mit der „Flugscham“ zusammenhängt, sei dahingestellt – jedenfalls nehmen auch die Fluggastzahlen immer weiter zu. Allerdings gibt es in bestimmten Kreisen tatsächlich einen Trend, auf Flugreisen zu verzichten und mit Freunden die Sorge um das Klima zu besprechen. An Universitäten werden gar Bewältigungskurse gegen „Klimaangst“ angeboten. Und fast alle schwedischen Journalisten sind sich in ihren Artikeln einig über die Verwerflichkeit des Fliegens, ebenso ein Boulevardblatt wie „Expressen“. Darin wurde das Fliegen am Jahresanfang gar als „teuerster Selbstmord der Weltgeschichte“ gerügt. Umweltfreundliche Reisegeschichten wie „Mit der Bahn nach Berlin“ haben dagegen Konjunktur. Während früher häufige Flugreisen mit Status und Erfolg assoziiert wurden, hänge ihnen nun etwas Peinliches an, stand in einer führenden Landeszeitung.

Auch die Kronprinzessin macht sich Sorgen

In Radio Schweden wurde der zweifache Vater Perikles Nalbanits porträtiert, der an einer „Klimadepression“ erkrankt sei. Jetzt setze er sich aktiv für den Umweltschutz ein und verzichte auf das Fliegen. Das nehme ihm etwas von seiner Angst, sagt er. Auch Schwedens Kronprinzessin Victoria hat jüngst offenbart, dass sie an „Klimaangst“ leide.

Malena Ernman, die Mutter der jungen Klimaaktivistin Greta, hat 2009 für Schweden am Eurovision Song Contest teilgenommen und versagt sich das Fliegen ebenso: „Wegen meines Berufs muss ich rund um die Welt unterwegs sein. Ich verzichte dabei aber auf das Fliegen“, sagte sie im Werbefilm eines Umweltschutzverbandes. Der siebenfache Weltcup-Sieger im Biathlon, Björn Ferry, hat sich ebenfalls entschieden, am Boden zu bleiben. Medienwirksam setzte er durch, dass er zu seinen weltweiten Kommentatoren-Auftritten für das schwedische Fernsehen mit Zug und Schiff anreisen darf. „Wenn ich doch fliegen soll, werde ich Nein sagen oder kündigen“, versprach er.

Die zahlreichen Artikel über „Flugscham“ und prominente Flugverweigerer machen Eindruck auf das Volk. Aber verzichten tatsächlich schon so viele Schweden auf das Flugzeug, dass ein Effekt spürbar ist? Oder führt die viel zitierte „Flugscham“ nur dazu, dass die obere Mittelschicht eben einmal weniger pro Jahr nach Asien fliegt? Das ist umstritten. Studien gibt es dazu keine, nur subjektive Eindrücke.

Die Angst vorm Fliegen – ein Akademikerphänomen

„Flugscham? Klimaangst? Ja, das ist total verbreitet. Mein Vater redet jeden Tag davon. Er ist kein grüner Akademiker, sondern ein normaler Arbeiter“, sagt der 31-jährige Student Jonas aus Göteborg. Seine Kommilitonin Åsa kommt aus einem Dorf im Norden und sagt, dass auf dem Land nicht so viel über „Flugscham“ geredet werde wie in urbanen Akademikerkreisen. „Die Großstädter können auf Flugreisen verzichten, weil sie teure Alternativen haben.“ Manche Kommentatoren vergleichen die Betroffenheit von „Klimaangst“ und „Flugscham“ mit dem Engagement für Umweltschutz in den 1980er Jahren. Nur würden die Probleme heute psychologisiert. Die urbane Bioladen-Mittelschicht werde durch ihren Flugverzicht jedenfalls „nicht die Welt retten“, schreibt „Expressen“.