Vorlesen ist ein einfaches, wichtiges und schönes Geschenk – die Tatsache, dass es kleinen Kindern immer seltener gemacht wird, bereitet unserer Kolumnistin Magenschmerzen.

Viele Stimmen erklingen, wenn ich daran denke, wer mir früher vorgelesen hat. Mühelos lassen sie sich zu einem Chor zusammenstellen: Mutter und Vater, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit vorlasen, wie sie für regelmäßige Mahlzeiten sorgten, eine unerschöpfliche Großmutter, Kindergarten-„Tanten“, eine Grundschulfreundin, die schon vor der ersten Klasse lesen konnte, verschiedene Lehrerinnen – und schließlich ein Kunstreferendar am Gymnasium, der uns aus J. R. R. Tolkiens „Der kleine Hobbit“ die Stelle vom Drachen Smaug auf seinem funkelnden Schatzlager vortrug. Seine in sanftem Schwäbisch eingefärbte Jungmännerstimme höre ich jetzt noch: „Da lag er, der rotgoldene Drache, und war fest eingeschlafen.“ Das Untier sollte in Wasserfarben gemalt werden, aber diese Aufgabe war mir weniger wichtig als der Gang in die Stadtbücherei im Wilhelmspalais, um dort sofort mit der Tolkien-Lektüre zu beginnen.