Seit dem letzten Lockdown trifft unsere Kolumnistin nicht mehr nur Trauernde und vereinzelte Spaziergänger bei ihrem Hobby hinter Friedhofsmauern.

Stuttgart - Die Luft anhalten, sich aus dem Zehenspitzenstand so weit wie möglich über den Rand hängen, nicht vergessen, sich mit einer Hand festzuhalten, denn der Sturz in diese Düsternis aus verfaulten Pflanzenstängeln und welken Kränzen wäre schrecklich. Aber stärker als meine Angst fühle ich die Gier nach den Schätzen, die ich mit der freien Rechten aus der Tiefe picke – zinnoberrote Dahlienköpfe, deren Blütenblätter in alle Richtungen strahlen, weiße Margariten mit dickem gelbem Knopf in der Mitte, voll erblühte Gartenrosen, die ich ihren verwelkten Schwestern von der Seite reiße und mit meiner schwitzenden Faust umklammere. „Was wird denn das, du Strick?“ Mein Großvater lacht, ich erkenne das an seiner Stimme, höre, wie er die Blechkanne schabend auf den Rand des Sandsteintrogs stellt, den Hahn aufdreht und Wasser hineinrauschen lässt. „Da wird sich deine Mutti sicher freuen“, grinst er, als ich mich aus dem Abfallbehälter herausstemme und ihm voller Stolz meine Ausbeute präsentiere.