Der StZ-Korrespondent Hannes Gamillscheg hat einiges an Skandinavien lieb gewonnen. Auch das, was die Dänen „Hygge“ nennen: ein gemütliches Plauderstündchen. Wenn jemand daran rührt, können sie ganz ungemütlich werden.

Kopenhagen - Als ich nach Dänemark zog, war mir das Phänomen der Hygge so fremd wie einem Durchschnittsdänen das Skifahren. Doch an beides kann man sich gewöhnen. Mit der Zeit habe ich die Hygge so lieb gewonnen wie viele Dänen die Winterwoche in den neuen alpinen Skiressorts, in denen sie mittlerweile die Beinbruchstatistik anführen.

 

Zur Hygge bietet uns das Wörterbuch Gemütlichkeit, Traulichkeit oder auch Wohnlichkeit als Synonyme an. Alle drei Begriffe streifen den Kern, aber keiner trifft ihn wirklich. Hygge ist ein Zustand ebenso wie ein Ritual, und wie wichtig sie den Dänen ist, zeigt, dass es zu ihr nicht nur das passende Adjektiv hyggelig gibt, sondern auch ein Verb. Man „gemütlicht“ sozusagen: man hygger. Man kann alleine hyggen oder mit einem guten Buch und einem Glas Wein, richtige Hygge aber erfordert Gesellschaft.

Wenn es heißt: „Wollen wir uns nicht hyggen?“, dann setzen wir uns in die weiche Sofaecke, mit Kaffee und Kuchen oder einem Drink. Hyggelige Beleuchtung ist Pflicht: eine schummrige Lampe, Kerzen. Musik im Hintergrund, aber nicht zu laut, denn zum Hyggen gehört das Plaudern.

Wichtig: keine kontroversen Themen! Das war der klassische Fehler des Zugereisten, als ich dachte, in so guter Gesellschaft könne man frei von der Leber weg diskutieren, politische Streitfragen erörtern, an Tabus kratzen, eben die Streitkultur pflegen. Lange Blicke, peinlich berührtes Schweigen waren die Folge, dann ein unverbindliches: „Morgen soll es wieder schneien, was sagst du denn zu unserem Winter?“ „Gefällt mir gut“, log ich, denn ich hatte verstanden, dass es nicht die Aufgabe des Ausländers ist, Kritik zu üben.

Das heißt nicht, dass man nicht über Politik reden kann. Wenn sich alle einig sind, darf aus Herzenslust auf die anderen geschimpft werden. Doch bei unterschiedlichen Auffassungen gilt: Thema meiden. Ebenso Finanzielles. Eher wird eine Dänin über die Zahl ihrer Liebhaber reden als über die Höhe ihres Einkommens. Unerschöpflich hingegen sind Urlaubserinnerungen, Kinder, Büroklatsch. Was der Friseur kostet. „Dänemark sucht den Superstar“. Die neuesten iPhone-Apps.

Der Hygge wird auch bei der Arbeit ausgiebig gepflogen. Kein Anlass ist zu nichtig, um nicht zu einer Hyggestunde zusammen zu finden. Doch wie so vieles von dem, was Dänemark liebenswert gemacht hat, sieht sich nun auch die Hygge der Kosten-Nutzen-Rechnung unterzogen. Im Rathaus von Helsingør wurde sie rationalisiert. Nur einmal wöchentlich sollte sie noch gestattet sein: donnerstags um drei. Da können alle anfallenden Feste abgefeiert werden, und nach 15 Minuten geht es zurück an den Schreibtisch. Ein Viertel Stündchen Hygge pro Woche – das musste reichen. Doch der Widerstand der Mitarbeiter war zu massiv. „Die Hyggepause ist uns heilig“, schworen die. „Sie ist ein Teil der dänischen Kultur, es gibt so viele Dinge, die man über einer Tasse Kaffee lösen kann!“ Gegen die Kultur kämpfen Reformer vergebens. Jetzt darf in Helsingør wieder gehyggt werden.