In der Familie unseres Autors steht der November im Zeichen der Erinnerung und der Erfahrung, dass der Tod zum Leben gehört.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Warum auch immer? In diesen Kolumne fühle ich mich dem leichten Fach verpflichtet. So ein bisschen journalistische Komödie, mehr Renitenz-, weniger Staatstheater. Nach dem Motto: für einen flachen Gag verkaufe ich hier meine Familie. Doch einmal im Jahr ist Schluss mit diesem lockeren Kicherkicher. Und zwar im Erinnerungsmonat November, der gerade mit Allerheiligen begonnen hat.

 

Unser Familienheiliger heißt Anton. Er wäre jetzt 12 Jahre alt geworden und kam als Zweiter von drei Söhnen zur Welt – tot. Ein paar Tage vor seiner errechneten Geburt hat das Herz aufgehört zu schlagen. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ich weiß wirklich nicht, wie meine Frau es geschafft hat, nach dieser Nachricht den Rat der Frauenärztin zu befolgen: Sofort ins Krankenhaus und das tote Baby auf natürlichem Weg zur Welt bringen. Und das unter extremen Schmerzen. Eine übermenschliche Leistung. Mich hat allein die Anwesenheit im Kreißsaal völlig überfordert. Was ein himmlischer Moment sein soll, kann zur Hölle werden.

Das Schicksal ist ein wankelmütiger Geselle

Unmittelbar nach Antons Geburt ist uns seelsorgerische Hilfe angeboten worden, die wir auch annahmen. Innerhalb kürzester Zeit ist uns aber klar geworden, dass das Beten mit einer Unbekannten und deren gut gemeinte Berührungen in diesem Moment sehr befremdlich auf uns wirkten. Deshalb baten wir die Ordensschwester auch, wieder aus dem Zimmer zu gehen. Im Glauben fanden wir keinen Trost, verloren haben wir ihn damals aber auch nicht.

Viel besser aufgefangen fühlten wir uns von Freunden und von der Familie, die für uns da waren. Mit Worten, mit Taten, oder nur mit kleinen Gesten. Wir haben aber auch gemerkt, dass es Menschen gibt, die mit dieser Situation überfordert waren und uns aus dem Weg gegangen sind. Dieses unbeholfene Totschweigen ist für viele Trauernde das Schlimmste. Dagegen ist selbst ein unpassender Witz Gold. Die größte Hilfe war unser damals drei Jahre alter erstgeborener Sohn, der uns in den Alltag zurückholte. Und dann natürlich die Geburt des dritten Kindes nur ein Jahr nach dem Tod des zweiten. Das Schicksal, ein wankelmütiger Geselle.

Die Erinnerung als gemeinsame Erfahrung

Oft haben meine Frau und ich gehört, dass uns das Schlimmste widerfahren sei, was Eltern zustoßen könne. Das stimmt nicht. Wie muss es sich erst anfühlen, wenn das Kind tot zur Welt kommt, wenn noch kein anderes geboren wurde und auch keines mehr folgen soll. Wenn die Tochter, der Sohn durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird, oder eine unheilbare Krankheit einen frühen Tod furchtbare Gewissheit werden lässt. Diese Wunden kann die Zeit nicht heilen. Sie bleiben offen. In unserer Familie sind nur kleinere Narben zurückgeblieben, die uns zeigen, dass der Tod zum Leben gehört.

Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich zu wenig an unseren Mittleren denke, dass ich das Grab öfter besuchen müsste. So geht es auch meiner Frau und Antons Brüdern. Ich glaube, der Erinnerungsmonat November tut uns deshalb allen ganz gut. Dazu gehört die vor vielen Jahren gemeinsam erdachte Vorstellung vom Familienheiligen Anton, der uns beschützt. Immer und überall.