Die Autorin ist in Zeiten aufgewachsen, in denen mit Menschenketten für Abrüstung demonstriert wurde. Die Aufrüstung in Kinderzimmern macht ihr Angst.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Sitzt Ihr Sohn auch fasziniert vor Computerspielen, in deren Namen Wörter wie Clash und Battle vorkommen? Draußen scheint die Sonne, aber die Vorhänge sind zu, um bessere Sicht aufs Schlachtfeld zu haben, wo hinter jeder Ecke Gefahren und Tode lauern. Kopfhörer krönen den Rückzug aus dem Realen, sie verbinden den jungen Krieger mit Schießkameraden in der virtuellen Welt; ab und an dringen Rufe durch: „Achtung, da hinten ist einer!“ „F*ck, mich hat’s erwischt!“

 

War es nicht erst gestern, dass der kleine Kerl nicht drinnen zu halten war, weil wieder ein Bobbycar-Rennen auf der Straße angesagt war? Statt um Kopf und Knie sorgen sich Eltern nun um die unsichtbaren Wunden an einer Jungmenschenseele. Aber ich kann Sie trösten: Die erste Liebe wirkt da unendlich heilsamer als alle pazifistischen Argumente aus dem Muttermund.

Der Trend geht zum Zweitmesser

Neulich saßen wir mit Freunden zusammen; nach den üblichen pandemischen und tagespolitischen Erregtheiten drangen wir zu wunden Punkten der Erziehung vor. Computerspiele wirken da plötzlich vergleichsweise harmlos: Junge Männer brauchen heute anscheinend Messer – keine virtuellen, nein, echte. Sie sehen nicht nur martialisch aus, Namen wie „Walther“ künden auch davon. Der Trend geht sogar zum Zweit- und Drittmesser, wie ich erfahren habe. Wofür, wollte ich zu Hause wissen, und bekam eine Antwort, die irgendwas mit Ästhetik zu tun hatte.

Der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Gottfried Maria Barth verweist auf das wenig stabile Selbstwertgefühl von jungen Menschen. „Dieses Messer in der Tasche hat etwas sehr Beruhigendes. Da fühle ich mich stark“, hört Barth von seinen Patienten. Leider bleibt es nicht immer dort. Auch wenn die Gewaltkriminalität bei Jugendlichen seit zehn Jahren stetig sinkt, nehmen die Vorfälle zu, bei denen Messer im Spiel sind: Insgesamt 256 Fälle gab es 2020 laut Polizeistatistik in Stuttgart, 17 Prozent mehr als 2018.

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Doch wie kommen Messer und junge Menschen zusammen? Im Internet finden sich Foren, in denen lang und breit diskutiert wird, was erlaubt, was verboten ist. Ich Ahnungslose erfuhr hier, dass selbst junge Teenager im Laden jedes Outdoorherstellers Messer kaufen dürfen, mit denen man die größten Bären ins Jenseits befördern kann.

War ich bisher davon ausgegangen, dass es Gesetze gibt, die Jugendliche schützen, weiß ich jetzt, dass es in puncto Messer vor allem eine Grauzone gibt. Könnte man die zunehmenden Messerstechereien und -attacken, deren Protagonisten oft junge Männer sind, durch restriktivere Regeln verhindern? Zumindest einen Versuch wäre es wert, statt am nächsten Tatort wieder Kerzen und Blumen abzulegen.

Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Im Kulturressort betreut sie unter anderem die Kinderliteratur.