Uuups, schon wieder Schuhe mitten im Flur! Grenzüberschreitungen begegnete die Autorin bislang mit größtmöglicher Gelassenheit. Doch was tun, wenn die Kraft des guten Vorbilds nachlässt?

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Meine Kinder sind mit dem Euro und hindernisfreiem Reisen groß geworden. Bei Fahrten in die Schweiz waren die Grenzbeamten und ihre immer gleiche Frage eine kleine Sensation. „Gruezi miteinand, führet Sie Waren ein?“ Dass die Eltern stoisch mit „Nein“ antworteten, wo das Auto doch vollgepackt war mit Urlaubswaren wie Sonnencreme und aufblasbaren Wassertieren, sorgte regelmäßig für Verwirrung und Heiterkeit auf den hinteren Sitzen.

 

Offene Türen sind jetzt zu!

Dank Schengen verläuft selbst die Einreise in die Schweiz heute völlig humor- und barrierefrei. Dafür gibt es in unserer Wohnung eine wachsende Anzahl von Grenzen samt dazugehörigen Kontrollen. Wie lange schon habe ich das abendliche Aber-bitte-die Türe-auflassen!-Mantra nicht mehr gehört? Türen, die ich einst vorsichtig auf Zehenspitzen geschlossen habe, nachdem die kleinen Bewohner dahinter im Tiefschlaf versunken waren, gehen heute nur noch nach heftigem Anklopfen auf.

Ganz klar: Spätestens in der Pubertät entwickeln Kinder ein Bedürfnis nach Privatsphäre und brauchen einen Rückzugsraum. Im Zimmer meines Sohnes könnte ich in der Schicht bodenfüllend verteilter Kleider und Schulmaterialien sicherlich aber auch die ein oder andere Ware finden, deren Einführung auf keinen Fall mit der elterlichen Grenzaufsicht abgestimmt wurde.

Kinder haben mit Grenzüberschreitungen keine Probleme

Die Türschlüssel gingen zum Glück alle verloren. Statt auf diktatorisch anberaumtes Einmarschieren setze ich, wie von führenden Pädagogen empfohlen, auf Liebe und Vertrauen. Noch. Denn andererseits erlebe ich, dass meine Kinder ihrerseits vor Grenzüberschreitungen nicht zurückschrecken. Gemeinsame Territorien werden hemmungslos okkupiert: Der Esstisch muss vor der Benutzung mehrfach am Tag von Papierkram befreit werden; auf der Küchentheke landet alles, was junge Menschen nach dem Betreten des Hauses nicht mehr brauchen; im Wohnzimmer sollte ich das Sofa vorsichtshalber nach Tablets, Handys und halbvollen Chips-Tüten absuchen, falls ich je auf die Idee komme, mich auch einmal daraufsetzen zu wollen; und im Flur landen die Schuhe meiner jungen Mitbewohner grundsätzlich auf dem Boden statt im dafür vorgesehenen Schrank.

Alles fallen lassen, wo es einem passt?

„Sei doch nicht so spießig; ich brauch das doch gleich wieder“, lautet eine der beliebten Ausreden, wobei wir noch keine Einigkeit über die Definition von gleich herstellen konnten. „Wie wär’s, wenn wir unsere Schuhe ab jetzt auch einfach in den Flur kicken“, habe ich neulich meinem Mann vorgeschlagen. Der hielt das für eine ziemlich doofe Idee. Stimmt, ich werfe meinen Müll ja auch nicht auf die Straße um anderen zu demonstrieren, wie unschön es ist, wenn jeder seinen Abfall einfach fallen lässt, wo es ihm gerade passt. Also setze ich weiter auf die Kraft des guten Vorbilds – und fasse parallel die ein oder andere Boykottmaßnahme ins Auge. Einen Schuhschrank, so viel ist sicher, brauche ich meinen Kindern für ihre erste eigene Wohnung nicht zu schenken.

Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Als Kulturredakteurin betreut sie auch die Kinderliteratur.