Neustart Alltag: Die Schule hat begonnen, und der Wecker klingelt wieder unverschämt früh. Wie wär’s, wenn die Mamas morgens mal liegenbleiben?

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Juhuuuu, ich darf morgens wieder müde Männer mit Müsli munter machen und die XXL-Vesperbox füllen, um den Input des Schultags zumindest kalorientechnisch sicherzustellen. Wer hätte das gedacht, dass ich mich mal eines Tages über frühes Weckerklingeln freuen würde? Der coronabedingte Entzug von Alltag hat’s möglich gemacht.

 

Eigentlich wäre der Start in dieses besondere, da endlich (Daumen drücken!) wieder ganz normale Schuljahr ja der richtige Moment, um alles anders zu machen. Eigentlich – ein Wort, das auf dem Weg zu einer Gleichstellung der Geschlechter ziemlich sperrig rumsteht. Warum nicht morgens meinen Männern, die früh raus müssen, die Küche überlassen? Mein Arbeitstag beginnt in der Regel zu einer freundlicheren Tageszeit (und endet dafür im Finsteren).

Rein rechtlich sind Männer und Frauen gleichgestellt

„Du musst nicht so früh aufstehen, Mutter! Ich komme allein klar.“ Mit diesem Angebot erschreckte mich mein Sohn vor kurzem. Liegen bleiben, während die Liebsten sich in den Tag kämpfen? Eigentlich keine dumme Idee. Aber sofort setzt sich die Rabenmutter zu mir auf die Bettkante und lacht gehässig. Stimmt: Ich lebe in einem Land, das fragt, was mit Annalena Baerbocks Kindern passiert, wenn die Mama Kanzlerin wird. So leicht springt Frau nicht über den Schatten ihrer Sozialisation. Also raus aus den Federn.

Rein rechtlich ist die Gleichstellung von Männern und Frauen in Deutschland erreicht, wäre da nicht der lästige Alltag, der den Frauen mit gläsernen Karrieredecken, Teilzeitjobs, Gender Pay und vielen anderen Gaps (es gibt sogar einen Orgasm Gap!) ein echter Klotz am Bein ist. Laut Gleichstellungsbericht der Bundesregierung leisten Frauen jeden Tag 52,4 Prozent mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Nur gerecht also, wenn ich das mit der Vesperbox abtrete.

Nur noch 60 Jahre bis ans Ziel

Männergemachte Strukturen (Kinder, Küche, Karriereknick) zu knacken, ist nicht leicht. Inzwischen soll es Unternehmen geben, die tatsächlich nicht bankrottgehen, wenn sie zulassen, dass sich zwei Frauen eine Führungsposition teilen. Nur einer von vielen Schritten auf dem Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft. Tatsächlich gibt es sogar ein Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen, das Eige, das mit Blick auf Arbeit, Bildung, Gesundheit, Macht, Vermögen und Zeit einen Eige-Index entwickelt hat. Aus diesem geht hervor, wie das Institut anmerkt, dass es in Europa zwar Verbesserungen gibt, „die Fortschritte sich jedoch nur im Schneckentempo vollziehen“.

„Bei dem derzeitigen Tempo wird es immer noch mindestens 60 Jahre dauern, bis die Gleichheit von Frauen und Männern in vollem Umfang erreicht sein wird“, droht mir das Eige. Vielleicht sollte nicht nur ich morgens liegenbleiben, um in Sachen Gleichstellung endlich mal Gas zu geben?

P.S.: Am Sonntag will ich auf alle Fälle rechtzeitig aus den Federn, um es noch ins Wahlbüro zu schaffen. Was ich wähle? Klar, irgendwas mit Mama. Wo Handlungsbedarf besteht, zeigt ein emotionales Wahl-Video von Pinkstinks. Wer eine klare Parteiprogramm-Analyse sucht, findet sie im Gleichstellungs-Check 2021 des Deutschen Frauenrats.

Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Im Kulturressort betreut sie unter anderem die Kinderliteratur.