Gerade noch Babybrei und Windeln, auf einmal ist der Nachwuchs groß:
Wenn Kinder zu Jugendlichen werden, scheint die Zeit zu rasen. Unser Kolumnist Martin Gerstner wird fast ein wenig wehmütig angesichts dem Lauf der Zeit.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Die Zeit flitzt und wirbelt und lässt am Wegesrand ramponiert und zerkratzt zurück, was eben noch fest und leuchtend stand. Draußen tropft der Regen aus dem Novemberhimmel, drinnen ist es ruhig geworden. Das Orchester der Kindheit, die Klangmalereien aus Geschrei, Tränen, glucksendem Vergnügen, Trotz und Stille, werden leiser. Die Haptik der Spielzeugwelt hat sich ins Digitale verabschiedet. Wo eben noch die behüteten Kinder der Vor- und Grundschulwelt selbstvergessen Spielzeugautos, Dinosaurier oder Legotechnik gemäß einer geheimnisvollen Dramaturgie arrangierten, bitzelt jetzt das Handy mit den neuesten Tracks aus der Bravo-Kompilation, verbreiten sich die digitalen Boten der Whats-App-Generation.

 

Die Heranwachsenden machen es sich und den Eltern nicht leicht. Ihr skeptisch-interessierter Blick auf die Gewissheiten der Großen hat den milden Schleier der Kindheit durchdrungen. Und dabei – so denken die Eltern – liegt doch die Phase der durchwachten Nächte, der absoluten Fürsorge, des Herumwanderns durch die Regale mit Windeln, Breien und anderen Erzeugnissen einer zwar kinderarmen, aber kinderfixierten Gesellschaft gar nicht lange zurück.

„Weißt du noch?“

Es hilft nichts: Wenn Kinder älter werden, verlieren die Märchen- und Illusions-Arrangements im brausenden Getöse der Trends, Moden und technischen Neuerungen an Strahlkraft. Die Epochen der Kindheit, eine Abfolge aus Hoffnung und Enttäuschung, Erkenntnis, Verdrängung und Eroberung, werden kürzer und dramatischer. Reste der Häutungen werden von den Eltern aufgesammelt und als treuherziges Arrangement aus Bildern, aufgezeichneten Stimmen, Zeichnungen und Basteleien archiviert.

Die unvermeidbare Floskel „Weißt du noch?“ hat Konjunktur. Mit großen Augen berührt man vertraute Gegenstände der Kindheit, die ihre Aufgabe erfüllt haben. Wohin damit? Spenden? Aufbewahren? Was war wichtig? Was peinlich? Rasch wird klar, dass sich ein Leben nicht auf zwei, drei gedächtnisverstopfende Begebenheiten reduzieren lässt, sondern aus tausend Gesten, Ereignissen, Nebensächlichkeiten besteht. Also: erst mal in den Keller, dann sieht man weiter. Auch die Erziehungsratgeber, die sich in ermüdender Finesse mit den Ess-, Schlaf- und anderen Gewohnheiten der Kleinkinder befassten und den Eltern ein unbehagliches Gefühl der Nicht-Perfektion vermittelten – sie stehen noch im Regal. Längst hat man wieder begonnen, was Richtiges zu lesen.

Zurück bleiben Fragen: Hat man alles richtig gemacht? Hätte man manchmal anders reagieren. . . besser aufpassen . . . gelassener sein sollen? Gedankenketten durchwirbeln die Köpfe der Eltern. Sie verheddern sich in der Vergangenheit, während die Kinder mutig losmarschieren – genauso, wie man es sich gewünscht hat. Aber: muss das jetzt schon sein? Muss die verspielte Weltentrücktheit so schnell von der bissigen Realität verdrängt werden?

Doch die Zeit rast weiter. Draußen fällt der Novemberregen, vielleicht bald der Schnee. Aber irgendwann wird’s auch wieder wärmer. Wie es ist, ist es gut. Passt schon.