Mancher macht sich Sorgen, dass seine digitalen Daten verloren gehen, wenn die Speichertechnik altert. Doch der StZ-Kolumnist Peter Glaser sieht genau darin auch Vorzüge.

Stuttgart - Vielleicht zweigt gerade eine neue Spezies vom Homo sapiens ab, der Homo silicon-valleyensis. Nach dem Neandertaler nun der „Siliziumtaler“. Der Stoff, aus dem Mikrochips gefertigt werden, ist geschmolzener Quarz und die winzigen Schaltmuster auf der Oberfläche der Siliziumplättchen bedeuten: Wir schreiben wieder auf Steintäfelchen. Im Prinzip ist das vernünftig, da Stein – wie auch Papier – ein sehr haltbarer Datenträger ist. Wir aber scheinen uns zu einer neuen Art von Frühmensch zu entwickeln, der keine Bilder an Felswänden mehr hinterlässt, sondern vielmehr Projektionen, die spurlos wieder verlöschen. Die flüchtigen Ansichten auf unseren Bildschirm-Höhlenwänden sind abrufbar aus digitalen Speicherbänken – aber wie lange?

 

„Digitale Information hält für immer oder fünf Jahre – je nachdem, was zuerst kommt“, spotten Experten, die sich mit der Haltbarkeit von modernen Datenträgern befassen, ob magnetbeschichteten Bändern, Disketten, CDs, DVDs, Festplatten oder den neuesten Festkörperlaufwerken (SSD für Solid State Drive). Was noch am längsten durchhält, sind Festplatten. Die Daten, die nicht durch Materialermüdung unlesbar werden, müssen spätestens alle drei bis fünf Jahre auf die neueste Datenträgergeneration überspielt werden.

Das Internet ist ultrakonservativ

Während manche Angst davor haben, dass ihre Daten verloren gehen könnten, hoffen andere genau darauf. Ehe sich die Smartphones mit ihren computergleichen Speicherkapazitäten verbreiteten, konnte man von den alten Handys etwas Wichtiges lernen: sie beherrschten die Kunst des Vergessen. Man konnte eine Handvoll SMS darauf speichern; war die Karte voll, musste man löschen. Nicht nur Nachrichtensüchtige und Blogger horten heutzutage Text- und Bildvorräte, als läge das Durchschnittsalter bei 500 Jahren.

Heute können die Hersteller Speichermedien gar nicht so schnell liefern, wie der Platz auch schon wieder voll ist. Die forcierte Neigung, nichts mehr zu löschen und auch alle verwackelten Fotos aufzubewahren, führt zu einer gefährlichen kulturellen Transformation. Denn nicht nur Individuen sammeln Daten wie verrückt, auch Unternehmen und Behörden. Und: was ich vor Jahren ins Netz geschrieben habe, ist dort unverändert zu lesen. Es hält starr und statisch einen Zustand meiner Persönlichkeit fest, die sich längst weiterentwickelt hat. Das Netz aber besteht darauf, dass ich immer noch so bin, wie ich einmal war. Es ist ultrakonservativ.

Das Vergessen ist eine wichtige Funktion jeder Entwicklung. Manches von dem, was unsere Zivilisation ausmacht, wäre nicht denkbar ohne das Vergessen. Resozialisierung oder Vergebung etwa sind veredelte Formen des Vergessens. Und um wie viel einfacher wäre die Handhabung der Informationsflut, die ständig an unsere Bildschirme brandet, wenn Dateien ebenso vergehen würden wie das Laub auf Bäumen und Gedanken, die verblassen.

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