Die Livekultur meldet sich zurück! Noch steht das Wort „Autokonzert“ nicht im Duden. Unser Kolumnist hat eine ungewöhnliche Premiere beim Kulturwasen im Auto erlebt. Sein Fazit ist positiv: In der Krise ist man mit weniger zufrieden.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Früher hat man uns aufgefordert, zu Großveranstaltungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen. Aber jetzt ist alles anders. Der alte Appell fiel, wie so vieles anderes auch, der Pandemie zum Opfer.

 

In normalen Zeiten will die grün regierte Autostadt Stuttgart zur Reinheit der Luft den Pkw-Verkehr zurückdrängen. Nun sind ausgerechnet die unerwünschten Autos die Retter, um uns die Kultur nach zweimonatiger Zwangspause zurückzugegeben. Wenn das keine Vorlage für Spaßmacher ist! Über Corona freilich will Kabarettist Heinrich Del Core bei seinem Kulturwasen-Auftritt am 21. Juni keine Witze machen: „Die Leute haben genug von diesem Thema!“

Wer zuerst kommt, parkt vorn

„Live is life.“ Die Band Opus hatte, als sie diesen Uralthit schrieb, keinen blassen Schimmer, was Live im Life, im Leben der neuen Zwanziger bedeutet. Das Virus hat viel lahmgelegt. Nun aber schalten gleich mehrere Veranstalter einen Gang hoch, um ein bisschen Normalität in Fahrt zu bringen. Normal ist es nun, zu zweit hinter Windschutzscheiben zu staunen. Cabrio-Verdecke müssen geschlossen bleiben, Autofenster zu 80 Prozent. Das Fahrzeug darf man beim Kulturwasen nur verlassen, um allein mit Maske zügig auf die Toilette zu gehen.

Wer beim WC-Gang kurz stehen bleibt, um ein Handyfoto zu machen, wird von Ordnern gemaßregelt. „Das muss sich noch einspielen“, sagt Veranstalter Christian Doll. Wie entspannt fühlt man sich, wenn ein Verbot nach dem anderen über die LED-Wand flimmert? Biertrinken ist auch keine Lösung. Man ist mit dem Auto da. In harten Zeiten sollte man aber das Positive sehen: Popcornschmatzen von der Reihe davor hört man nicht. 90 Minuten vor Beginn darf man aufs Gelände. Wer zuerst kommt, parkt vorn, von Ordnern angewiesen. In der Wartezeit ist’s wie im Sommerstau auf der Autobahn. Man steht und schwitzt und steht.

Die Konkurrenz veranstaltet Live-Konzerte beim Flughafen

Haben wir eine Wahl? Corona gibt die Gesetze vor. Super jedenfalls ist, dass endlich Live-Erlebnisse möglich sind! In der Krise ist man mit weniger zufrieden. Das muss nach Jahren des grenzenlosen Partymachens nicht schlecht sein. Zum Kulturwasen von C2 Concerts, Chimperator und Arthaus gesellt sich der Live-Sommer 2020 der Konkurrenz: SKS Russ und Musiccircus bitten von Mitte Juni an zu Konzerten (ohne Kino) am Flughafen. Während die Wasen-Veranstalter sagen, man habe gemeinsame Sache mit allen machen wollen, sagen die Flughafenveranstalter, man habe parallel ein anderes Konzept erarbeitet.

„Schön ist es doch, dass es mit Kultur nun vorangeht“, findet Konzertdirektionschefin Michaela Russ, „Stuttgart und das Umland vertragen zwei Formate.“ Im Normalfall könne das Publikum auch unter mehreren Angeboten auswählen. Verwandtschaftlich ist man sich nah: Während auf dem Wasen Joey Kelly am 4. Juni einen „Motivationsvortrag über das Abenteuer Leben“ hält, wird sein Bruder Michael Patrick Kelly am 13. Juni die Reihe beim Flughafen eröffnen.

Auf dem Wasen dürfen zwei im Auto sind, am Flughafen vier

Der Unterschied zeigt sich im Autoinhalt: Auf dem Kulturwasen sind bisher nur zwei Personen pro Pkw erlaubt, beim Live-Sommer vier aus zwei Haushalten. „Dies entspricht den neuen Corona-Regeln“, betont Paul Woog, der das Flughafen-Programm mit Pop, Comedy, Schlager und Co. organisiert. „Der Parkplatz 0 ist leicht abschüssig“, sagt er, „perfekt für eine gute Sicht.“

Aber auch am Neckarufer sieht man dank der 240 Quadratmeter großen Leinwand gut. Über die UKW-Frequenz 106,8 wird der Ton übertragen. Wichtiger Tipp: Wenn der Klang verzerrt ist, muss man sein Auto ein paar Zentimeter bewegen, das Lenkrad einschlagen, bis die Antenne einen guten Empfang ermöglicht. Man sollte außerdem mit sauberer Frontscheibe kommen. Etliche haben am ersten Abend mit den „Känguru-Chroniken“, als sie merkten, dass die Scheibe nicht klar ist und sie einen Schmierfilm sehen, erst mal geputzt.

In Künstlerkreisen wird das neue Format kontrovers diskutiert

Zum Kino-Känguru rollten knapp 300 Autos an. War das eine Premiere! Eine für die Stadtgeschichtsbücher! Die Premierenredner standen weit entfernt auf der Bühne. Premierengäste telefonierten miteinander, weil keine Begegnung möglich ist. „Wo stehst du?“ – „Reihe vier, in der Mitte!“ Kurz traut man sich, mit einem Bein auszusteigen, um zu winken in Richtung des Freundes. Nur kurz, man will nix Verbotenes tun.

Musiker, die bei Autokonzerten aufgetreten sind, sagen, es sei besser als gedacht. Manche erzählen von sensationeller Stimmung. In Künstlerkreisen wird das Format kontrovers diskutiert. Die Leute würden ins Theater gehen, ist zu hören, um Geselligkeit zu erleben und sich von der Laune der anderen mittragen zu lassen. Doch nun ist man zu zweit weggesperrt. Andere sagen, man müsse gerade jetzt Flagge zeigen, um die Sehnsucht nach Live-Entertainment zu erfüllen.

So oder so – entgehen lassen sollte man sich die neue Art des Vergnügens nicht! Einst wird man den Enkeln davon erzählen. Wir waren dabei! Wer kein Auto hat, kann Platz nehmen in dauerhaft geparkten Fahrzeugen. Die Zeiten sind seltsam. Da darf’s auch mal seltsame Experimente geben. Wer sich mit weniger zufrieden gibt, sieht vielleicht auch bei anderen Dingen, was wirklich zählt.