Die Partien aus Russland verfolgen einen Tag und Nacht – und machen selbst vor dem Bundespräsidenten nicht halt, der seinen Flugplan nach der DFB-Elf richtet.

Stuttgart - Als ich vor vier Jahren kurz vor der WM in eine neue Wohnung zog, standen im Keller die üblichen archäologischen Grabungen an. Was von dem Zeug hier ist Müll, was ein Schatz? Irgendwo zwischen Römertopf und Vinyl-Plattensammlung entdeckte ich ein Ding, das mal ein Schatz, ach was: ein Wunder! war. Rechteckig, flach, grau, mattes Gehäuse, vielleicht 20 Zentimeter hoch, schwer. Zwei Regler, eine Antenne.

 

Ein Taschenfernseher. Für die U-21-Leser: Stellen Sie sich einfach so etwas Ähnliches vor wie eine Herz-Lungen-Maschine. Jedenfalls für einen sehr fußballaffinen Menschen in meiner näheren Umgebung, der sich in gar nicht so lang vergangener Zeit in einer akuten Notlage befand. Neuer Job bei gleichzeitiger WM. So viele Spiele. So viel Arbeit.

Falls Sie das jetzt immer noch nicht verstehen: Ja, es gab eine Zeit vor dem Livestream und Smartphone. Menschen hatten nicht nur kein mobiles Endgerät. Sie hatten auch im Büro kein Internet. Manche hatten nicht mal einen Rechner am Arbeitsplatz. Sie schauten im Spielplan aus Papier, welcher der öffentlich-rechtlichen Kanäle übertrug, und suchten dann nach einem Ort, um jene Übertragung zu verfolgen. Es konnte sogar der Umstand eintreten (Finale!), dass Menschen in Fußgängerzonen auf Fernseher in Schaufenstern starrten.

Leinwand im Meer

Kann man sich heute nicht mehr vorstellen, ist aber nicht mehr als zwei Jahrzehnte her. Das Bild auf dem kleinen Taschenfernseher war genau genommen keine Übertragung, sondern eine Art performativer Videoarbeit. Aber zusammen mit dem Ton entstand die Illusion, soeben ein Turnier zu verfolgen – mitzufiebern und mitreden zu können. Eben nicht allein zu sein, ohne all die andern, die gerade woanders zusammen schauen.

Heute ist das alles anders: Man wacht mit Push-Nachrichten aus Watutinki unterm Kopfkissen auf, und geht mit dem Datscha-Podcast der lieben Kollegen in die Badewanne. Die Spiele laufen immer. Alle. Dazu kommt die Public-Viewisierung des Landes, die 2006 so richtig begann. Dass sie ihrer Vollendung entgegengeht, habe ich begriffen, als ich die Sache mit der Leinwand auf Usedom las. Sie steht im Meer. Damit man vor lauter Horizont, Sonnenuntergang und Wellenschaum bloß nicht Australien gegen Peru verpasst.

Präsidentenmaschine muss warten

Der Anspruch, alles sehen zu wollen oder zu sollen, hat sich derart durchgesetzt, dass mir ein Freund neulich erzählte, wie an der Schule seiner Tochter eine Elternkrise ausbrach. Die Väter hatten – unter Verweis auf die Söhne! – jeden Terminvorschlag fürs Sommerfest abgeschmettert, was bei anwesenden Pädagoginnen zu einer Schmallippigkeit führte, deren Auswirkungen auf die Zensuren derzeit noch gar nicht abzusehen sind. Auch im Gorki-Theater haben sie kapituliert und schicken Schauspielmüde direkt in den Garten zum Fußballschauen. Der Bundespräsident sorgt sich ums fußballerische Wohl der Delegation, die ihn zurzeit durch die USA begleitet. Der Abflug der Präsidentenmaschine am Sonntag vom Regierungsflughafen wurde auf nach dem Spiel terminiert – bei ungewöhnlich langer Check-in-Phase vor einer Großleinwand.

Selbst das nicht gerade als Arbeiterführerfachblatt bekannte Magazin „Capital“ schlägt seinen Lesern vor, „mal was zu riskieren“ und sich heimlich einen zweiten Desktop zu besorgen. Fast wie früher.