Wenn Berlusconi die Wahl in Italien gewinnt, droht die Rückkehr der Euro-Krise – auch, weil sich die Eurostaaten extrem unterschiedlich entwickeln. Auch das hätte Joachim Gauck in seiner Grundsatzrede ansprechen sollen, meint StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Berlin - Man stelle sich folgendes Szenario vor: Silvio Berlusconi gewinnt am Sonntag und Montag die Parlamentswahl in Italien; nach dem Urnengang in Zypern am Wochenende werden die Privatanleger an den Kosten der Umschuldung der Mittelmeerinsel beteiligt; und in den kommenden Wochen zieht die US-Notenbank Fed wie angedeutet die geldpolitischen Zügel wieder an. Das Ergebnis wäre absehbar: die Rückkehr der Eurokrise.

 

„Europa steht vor weiteren Herausforderungen“, warnte Joachim Gauck in seiner europapolitischen Grundsatzrede. Da hat der Bundespräsident ohne Zweifel recht. Allen EU-Gipfeln, Annäherungen, Absichtsbekundungen und einem scharfen Kurswechsel der Europäischen Zentralbank zum Trotz: auch fast drei Jahre nach dem Ausbruch der Eurokrise ist der Kontinent immer noch nicht aus dem Gröbsten heraus. Wenn mögliche Ergebnisse einer parlamentarischen Wahl und eine politische Entscheidung in einem Zwergstaat die Börsen – wie diese Woche geschehen – in nervöse Zuckungen versetzen, zeigt dies nur eins: Europa und seine Finanzmärkte befinden sich immer noch in einem sehr labilen Gleichgewicht. Und einer der Gründe dafür ist das offenbar stabile Ungleichgewicht, in dem sich die Wirtschaft der Euroländer befindet.

Problemfall Frankreich

Nach den am Freitag veröffentlichten Zahlen strotzt Deutschland zwar nicht mehr so vor Kraft wie noch vor Jahresfrist, ist aber nach wie vor der Wachstumsmotor der Union und entwickelt sich sogar ein wenig besser als erwartet. Ganz anders hingegen die Situation in den Südländern Spanien und Italien: die Konjunktur schrumpft, die Haushaltsdefizite steigen, und vor allem in Spanien erreicht die Arbeitslosigkeit mit mehr als 25 Prozent (bei Jugendlichen sogar mehr als 50 Prozent) ein Maß, das keine Gesellschaft über einen längeren Zeitraum ertragen kann.

Mindestens so problematisch bleibt aber die Lage in Frankreich. Nach den Prognosen der EU-Kommission wird die Grande Nation weder in diesem noch im nächsten Jahr das Maastricht-Ziel einer Neuverschuldung von höchstens drei Prozent des Sozialprodukts erreichen. Und schlimmer noch: es ist unter der Führung von François Hollande keine Politik erkennbar, die spürbar zu einer Belebung der wirtschaftlichen Aktivität führt.

Gesucht ist die Balance zwischen Solidarität und Verlässlichkeit

Gaucks Analyse ist richtig: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, seien noch substanzielle Veränderungen in der EU nötig, meint der Bundespräsident. Man kann noch weiter gehen. Im Jahr vier der Krise gibt es zwar den grundsätzlichen Konsens der Eurostaaten, ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik enger miteinander zu verzahnen. Es haben sogar alle EU-Staaten außer Großbritannien und Tschechien den Fiskalpakt unterzeichnet, der zu nachhaltigem Haushalten anhält.

Doch Gaucks Rede hört im praktisch-politischen Bereich da auf, wo es wehtut. In Sonntagsreden wird zwar eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik gelobt, aber selbst die engen Partner Deutschland und Frankreich verstehen darunter etwas grundsätzlich anderes. Und wo ist die Balance, wo ist der politische Konsens zwischen der von den starken Euroländern geforderten Verlässlichkeit, etwa bei der Sanierung der Haushalte von Krisenstaaten, und der von den schwächeren Ländern eingeforderten Solidarität?

Europa braucht einen Gründungsmythos

Europa fehle der Gründungsmythos, nach Art einer Entscheidungsschlacht, in der Verbündete einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls ihre Identität bewahren können, stellt der Bundespräsident zutreffend fest. Es mag martialischere Bedrohungen als eine Finanzkrise zur Identitätsfindung einer Staatengemeinschaft geben. Den Wertekanon von Frieden und Freiheit lebt Europa bereits. Was es nun braucht, ist der Wille, die Eurokrise gemeinsam hinter sich zu lassen.