Der Fall Acta zeigt, dass es einen Interessenausgleich im Internet geben muss. StZ-Redakteur Michael Maurer befindet, dies sei Aufgabe der Politik.

Stuttgart - Sopa, Pipa, Acta – ein weltweiter Internet-Orkan ist in den vergangenen Wochen über die traditionelle Politkultur hinweggefegt und hat kräftige Schneisen geschlagen. Sopa, Pipa und Acta stehen für Gesetzesvorhaben, die in den USA, in Europa und anderen Ländern auf den Weg gebracht wurden, um vor allem die Urheberrechte im Internet neu (meist rigider) zu definieren. Alle drei sind nach Protesten der erdballumfassenden Netzgemeinde gestoppt worden. Acta, so hat jetzt die EU-Kommission entschieden, soll erst einmal vom Europäischen Gerichtshof begutachtet werden. In Deutschland bilanziert der Vorsitzende des Vereins Digitale Gesellschaft, Markus Beckedahl, zufrieden: „Die digitale Bürgergesellschaft kommt in Fahrt.“ Wer deren Rechte ignoriere, „wird dafür die Quittung erhalten“.

 

Die etablierte Politik steht dem auch in Deutschland oft machtlos, ratlos, hilflos gegenüber. Sie muss sich anhören, bereits bei Erfindung des Kassettenrekorders zu alt für den Medienwandel gewesen zu sein. Sie flüchtet sich in eilfertiges Entgegenkommen, verteidigt Acta erst und verlangt dann, vom Protest erschreckt, weitere Prüfungen. Und sie sucht verzweifelt den Zugang zu einer tatsächlichen Netzpolitik.

Netzpolitik ist mehr als Twitter und Facebook

Diese Netzpolitik erfordert nämlich mehr, als Kurzmitteilungen über Twitter zu verbreiten und eine Facebook-Seite zu pflegen. Netzpolitik ist auch mehr, als sich nur mit den Strukturen des Internets oder seiner Nutzung zu befassen. Wie die Debatte um Acta und Co. zeigt, steht ein dritter Aspekt im Vordergrund: „Politik durch das Netz“, wie es der Publizist Daniel Roleff ausdrückt. Die digitale Gesellschaft nutzt das Netz nicht mehr nur als Informations- oder Unterhaltungsmedium. Sie artikuliert darin ihre Interessen und organisiert den Widerstand, sollten diese Interessen gefährdet sein. Die jüngsten Erfolge, zu denen auch das Aufkommen der Piraten-Partei zählt, werden diese Entwicklung verstärken. Sie haben gezeigt, wie viel Druck auf die Politik ausgeübt werden kann, wie viel reale Macht der virtuelle Raum bietet. Das Selbstbewusstsein vieler Netzaktivisten ist als Folge schon kaum mehr zu überbieten.

Freiheit braucht Regeln und Gesetze

Der Einfluss der digitalen Öffentlichkeit wird zweifellos zunehmen. Unklar ist jedoch, ob daraus tatsächlich die von Experten prophezeite „Re-Politisierung der Bevölkerung“ und die Belebung demokratischer Prozesse resultiert. Die digitale Gesellschaft bewegt sich in einem Raum, in dem die Freiheit praktisch absolut gesetzt wird. In einer demokratischen Gesellschaft braucht die Freiheit jedoch stets Regeln und Gesetze. Seine eigenen Interessen kreativ, lautstark und machtbewusst zu vertreten, ist legitim. Doch die Qualität einer demokratischen Gesellschaft liegt darin, wie sie den Ausgleich der Interessen organisiert. Ein Beispiel aus der Diskussion über Acta: die Alternative zu einem überkommenen Urheberrecht kann nicht sein, dieses komplett abzuschaffen. Und ganz generell ist die digitale Welt nicht per se eine demokratischere als die „analoge“, um im Bild zu bleiben.

Wenn die Spaltung der Gesellschaft in digital und analog vermieden werden soll, muss die Politik den Interessenausgleich zwischen den beiden Welten herstellen. Netzpolitik zu betreiben ist ihr ureigenstes Handlungsfeld, das sie weder der selbst ernannten digitalen Avantgarde noch den kommerziellen Anbietern überlassen darf. Sie muss die Beteiligten einbinden und sie muss für Transparenz in den Prozessen sorgen. Vor allem aber muss die Politik ihre Kompetenz in diesem Bereich erhöhen. Netzpolitik ist keine Nische mehr, sondern steht auf einer Stufe mit den klassischen Politikfeldern. Deshalb müssen die politisch Verantwortlichen auch für diesen Bereich kraft eigener Autorität die Normen setzen und verteidigen. Das opportunistische Wegducken, wenn der „Shitstorm“ aus dem Netz bläst, ist keine Lösung.