Mit der Agenda 2010 hat Gerhard Schröder vor zehn Jahren einen Reformschub ausgelöst, von dem Deutschland heute noch zehrt. Doch inzwischen ist der Berliner Reformeifer erlahmt, meint StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Es gibt ein Gemälde, das die Stimmung von Gerhard Schröder im Frühjahr 2003 genau getroffen hat. In seinem Büro im Berliner Kanzleramt hing – symbolträchtiger geht es kaum – ein kopfüber abstürzender Adler von Georg Baselitz. In die wirtschaftliche Realität jener Zeit übersetzt bedeutete das: mehr als vier Millionen Arbeitslose, die rote Laterne beim Wachstum weit und breit, defizitäre Sozialsysteme trotz hoher Lohnzusatzkosten. „Die deutsche Krankheit“ (so der Titel einer Ausgabe des britischen „Economist“) wird zum Synonym für ein sklerotisches, nicht wettbewerbsfähiges altes Europa.

 

Zehn Jahre später ist Deutschland die Wachstumslokomotive in Europa, der letzte stabile Pfeiler der Währungsunion. Im Jahresdurchschnitt sind weniger als drei Millionen Menschen ohne Arbeit, die Sozialkassen sind prall gefüllt, die Steuereinnahmen sprudeln. Ganz anders in Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien. In der EU, aber auch darüber hinaus, wird um Reformen gerungen, die Wirtschaft schrumpft, die sozialen Netze sind zum Zerreißen gespannt, und die Arbeitslosigkeit – besonders unter Jugendlichen – strebt traurigen Höchstständen zu.

Die bedeutendste Reform der vergangenen 20 Jahre

Zwischen diesen beiden Bestandsaufnahmen steht als zentrales Element die Agenda 2010, jenes von Gerhard Schröder vor ziemlich genau zehn Jahren verkündete Paket von 13 Reformbausteinen. „Entweder wir modernisieren, oder wir werden modernisiert“, lautete damals der zentrale Satz, der Schröder zum Handeln trieb. Um Deutschland wieder an die Spitze in Europa zu führen, so hatte er angekündigt, „werden wir Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“.

Heraus kam die für Deutschland sicherlich bedeutendste Reform der vergangenen 20 Jahre, mit der es gelang, erstmals seit den 80er Jahren den Automatismus steigender Arbeitslosenzahlen umzukehren. Wenn Angela Merkel heute auf die gute Wirtschaftslage hierzulande verweist, kann sie sich jedes Mal auch bei ihrem Vorgänger bedanken.

Die Agenda 2010 hatte gravierende Nebenwirkungen

Gleichzeitig hat die Reform nicht nur Schröder sein Amt und die SPD die Mehrheitsfähigkeit gekostet, sondern auch gravierende Nebenwirkungen gehabt, etwa in Form eines übergroßen Niedriglohnsektors, einer Armada von Leiharbeitern und einer weiteren Spreizung der Vermögen. „Sozial ist, was Arbeit schafft“, hat die heutige Kanzlerin in ihrer Sturm-und-Drang-Phase einmal formuliert. Doch dieser Satz wäre heute nicht mehr mehrheitsfähig: Arbeitslosigkeit wird nicht mehr als zentrales Problem deutscher Politik wahrgenommen. Vielmehr rückt soziale Ungerechtigkeit – Arbeitnehmer, die nicht von einer Vollzeitstelle leben können, der Missbrauch der Leiharbeit – in den Fokus.

Angesichts dieser Fehlentwicklungen ist es kein Wunder, dass die Gerechtigkeitsfrage im Mittelpunkt des Bundestagswahlkampfs steht. Sicherlich muss hier korrigiert werden. Und doch greift die Verteilungsdebatte zu kurz. Denn ähnlich wie Gerhard Schröder es geschafft hat, wieder mehr Menschen in Arbeit zu bringen, muss es auch künftig darum gehen, wie sich Deutschland und Europa im internationalen Wettbewerb behaupten. Das hängt aber weniger an der Frage von Mindestlohn oder Vermögensabgabe, sondern daran, wie etwa Innovationskultur und Gründergeist gestärkt werden, wie Zuwanderung organisiert und die Bildung verbessert wird.

Deutschlands Reformeifer ist erlahmt

Zehn Jahre nach dem Schröder’schen Reformschub, im Jahr acht der Kanzlerschaft Angela Merkels, ist die Veränderungsbereitschaft zum Erliegen gekommen.

In Sachen Reformeifer sortiert die Vereinigung der Industrieländer OECD Deutschland inzwischen auf dem letzten Platz in Europa ein. Der Adler ist gelandet. Der nächste Kanzler muss dafür sorgen, dass er wieder abhebt.