Bei der Kommunalwahl durften erstmals auch 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben. Die Autorin Julia Schuster hat sich bei Jugendlichen umgehört, ob sie diese Chance genutzt haben – und schildert ihre teilweise ernüchternden und aufwühlenden Eindrücke.

Stuttgart - Der Nichtwähler ist ein Mysterium – zumindest für mich und meinen Bekanntenkreis. Hinter vorgehaltener Hand wird geflüstert: „Ich habe gehört, der Max war nicht wählen.“ Wir wurden pflichtbewusst erzogen. Man informiert sich und geht anschließend zur Wahl, sei es mit Katerstimmung oder bei Sonnenschein. Mit diesem Gedanken aus wohl behüteten Jugendtagen schlenderte ich durch Stuttgarts Straßen - meine Mission: Jugendliche Nichtwähler aufspüren und ihr Politikdesinteresse entlarven.

 

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Überraschenderweise traf ich sie in Scharen: Die jugendlichen Nichtwähler, die von der Wahl auch nicht nur die geringste Ahnung hatten. „Es gibt eigentlich keine Ausrede“, sagen sie, wenn man sie nach dem Grund für ihr Verhalten fragt. Und sie lachen. Ich lächele nett zurück, dabei würde ich ihnen am liebsten eine Dosis Antikörper in Form von Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht verpassen und ihnen eine große Packung Politikinteressepillen für Zwischendurch verschreiben. Ich will schon die Hoffnung aufgeben, aber dann kommt sie doch noch hinterhergeschoben, diese kleine berühmte Konjunktion, eine Erklärung für mein Politikparalleluniversum: „Aber ich bin über Politik auch nicht gut informiert.“ - „Aber ich interessiere mich nicht für Politik.“ - „Aber die Politiker reden immer so kompliziert.“

Die Wörter „aber“ und „Verkehrsleitsysteme“

Dieses „aber“ sollte aus dem deutschen Wortschatz gestrichen werden. Zusammen mit vielen Wörtern, die Politiker verwenden, zum Beispiel „Verkehrsleitsysteme“ (Wahlprogramm CDU), „Kreativwirtschaft“ (Wahlprogramm SPD) oder „Mischverkehrsfläche“ (Wahlprogramm Bündnis90/dieGrünen). Solche Begriffe sind in allen Wahlprogrammen zu finden. Das alles sind Worthülsen, hinter denen sich nicht nur für Jugendliche eine ganze Welt verstecken kann. Manchen Politikern würde ich gerne einen Duden schenken, weil sie zu Hause allem Anschein nach nur dieses rote Fremdwörterbuch haben. Den Jugendlichen würde ich gerne auch eine Portion mehr Deutschunterricht verpassen, aber das ist eine andere Geschichte.

Diagnose: gegenseitiges Desinteresse

Die Diagnose: Zwischen Jugendlichen und Politikern herrscht ein gegenseitiges Desinteresse, das hoffentlich nicht hochgradig giftig oder ansteckend ist – immerhin scheint es eine große Menge Jugendlicher in Stuttgart bereits erfasst zu haben. Die Politiker interessieren sich nicht für die Jungen (unter den gewählten Gemeinderäten ist der mit Abstand Jüngste, Christian Walter, 24 Jahre alt), sie verkünsteln sich in Schachtelsätzen und baden in Fremdwörtern. Die Jugendlichen im Gegenzug interessieren sich nicht für verstaubte Vorschriften, bürokratisch langatmige Vorhaben und haben genug von Politikern gehört, die selbst Versprechen (oder Gesetze) brechen. „Jugendliche sind nicht mehr so politisch interessiert wie wir damals während der 68er Bewegung“, erklärt mir obendrein ein Stuttgarter Lehrer. Es klingt anklagend, dabei kann ich gar nichts dafür: Es gibt so viele Themen, für die ich sofort Transparente basteln und auf die Straße gehen würde. Nur: Es marschiert ja keiner mit. Ich habe schon viele Demonstrationen und Petitionen mitverfolgt: Die Resultate oder gar Bürgerentscheide kann ich an einer Hand abzählen. Jugendliche brauchen dazu wahrscheinlich keinen einzigen Finger.

„Nicht wählen ist doch peinlich“

Die letzten zwei jungen Nichtwähler, die ich auf meiner Mission treffe, schämen sich dann doch: „Ist doch peinlich – zu sagen, dass man nicht gewählt hat.“ Ja, ist es. Und keine Ahnung von politischen Geschehnissen vor Ort zu haben noch viel mehr. Dabei kann man mit Politik wundervolle Sachen machen: Das Clubsterben stoppen, die Öffnungszeiten des Skate-Parks ausweiten, die Jugendräte stärken, neue Jugendhäuser durchsetzen, die Sperrzeit stoppen.

In ein paar Jahren werdet Ihr, politikdesinteressierte Jugendliche, Euch hoffentlich in den Hintern beißen. Also informiert Euch. Wenn es sein muss, dann kauft Euch den Politikbrockhaus und lest ihn wie einen Roman. Abonniert jedes Heft von der Bundeszentrale für politische Bildung und tapeziert euer Zimmer damit (statt mit Justin Bieber). Spielt Politikerraten anstatt Fifa zu zocken. Und bringt mich, bitte, bitte, in fünf Jahren nicht noch einmal zum Heulen.