Siegerstimmung bei den Stadtisten: Auf Anhieb erzielte die neu gegründete Wählervereinigung im Stuttgarter Süden bei der Kommunalwahl 4,7 Prozent der Stimmen. Nun zieht einer von ihnen in das Stuttgarter Rathaus ein.

Stuttgart - Auf der Website der Stadtisten geht es zu wie auf der Sesamstraße. Erwachsene Menschen tragen ein großes, blaues „d“ durch die Gegend, posieren sich in Porträtfotos strahlend um das vierte Zeichen des Alphabets, tanzen um das „d“ herum oder spielen auf ihm Gitarre. Was ist denn so wichtig an diesem Buchstaben?

 

„Das kleine 'd' macht den Unterschied“, erklärt Stadtist Thorsten Puttenat. „Ohne das 'd' wären wir einfach nur Statisten. Typen, die nur im Hintergrund stehen und ausnahmsweise einmal durchs Bild laufen dürfen.“ Als die Wählervereinigung im Herbst vergangenen Jahres gegründet wurde, wollten die Beteiligten nicht länger passiv sein, sondern aktiv in die Handlung von Stuttgarts Stadtentwicklung eingreifen. Seit Dienstag vergangener Woche ist klar: Einer von ihnen hat die Rolle: Mit 11.180 Stimmen zieht Ralph Schertlen für die Stadtisten in den Stuttgarter Gemeinderat.

In der WG von Thorsten Puttenat, den alle nur „Putte“ nennen, ist Siegerstimmung. „Innerhalb von sechs Monaten haben wir es geschafft, nicht nur im Rathaus vertreten zu sein, sondern auch in den Bezirksbeiräten Stuttgart Süd, Mitte und West“, sagt „Putte“. Stolz ist er auf jede Stimme ihrer 195.526 Wähler. Insgesamt erreichte die junge Wählervereinigung 1,7 Prozent bei der Kommunalwahl. Im gut vernetzten Stuttgarter Süden erhielt sie sogar 4,7 Prozent.

Mit Sofas und Yucca-Palmen soziale Wärme verbreiten

„Die großen Parteien leiden unter Vertrauensverlust“, erklärt Ralph Schertlen das gute Ergebnis. Mit ihren politischen Machtkämpfen bewegten sich die Großen weg vom Wähler. „Wir haben keine Lust auf Ideologien“, sagt der frisch gebackene Stadtrat. Statt fest vorformulierte Lebensansichten bieten die Stadtisten ihren Mitgliedern Aktionen: „Wir ziehen mit Sofas, Teppichen und Yucca-Palmen auf öffentliche Plätze und verbreiten auf einer Betonwüste südländisches Flair und soziale Wärme“, erzählt Gründungsmitglied Thorsten Puttenat. Schon mehrere Projektpartner in der Stuttgarter Innenstadt konnten sie für ihre Idee „Obendrauf“ begeistern: „Kaffeehausbesucher zahlen nicht nur ihren Espresso, sondern spendieren gleich auch noch einen weiteren, für jemanden der ihn nötig hat.“

Ohne Schubladendenken ins Koalitionsgespräch

Wenn Ralph Schertlen nun mit solchen Anregungen im Stuttgarter Rathaus durchschlagenden Erfolg haben will, braucht er Mitstreiter: „Eins ist klar: Ich werde nicht allein kämpfen.“ Dann wäre er ja auch nichts anderes als ein Statist, ein Zuschauer. „Ohne die Mitarbeit in einem Ausschuss geht nichts“, sagt er. Angebote aller Parteien zur Fraktionszusammenarbeit liegen den Stadtisten bereits vor. Beim nächsten Stammtisch wird basisdemokratisch entschieden, mit wem ihr neuer Abgeordneter in Zukunft zusammenarbeitet. Dabei gibt es für Schertlen kein „Links“ oder „Rechts“, kein „Entweder-Oder“. Schubladendenken ist ihm ein Graus.

Mit seinem neuem Job im Rathaus geht für ihn ein Traum in Erfüllung: „Schon als Neunzehnjähriger wollte ich an der Stadtentwicklung mitarbeiten.“ Doch in den Parteiprogrammen der Etablierten fand sich Schertlen nicht wieder: „Hätte ich mich dort engagiert, wäre ich bestimmt schon hoch auf der politischen Karriereleiter geklettert.“ Stattdessen kandidierte der Parteilose 2012 bei der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart. „Eine offene Verwaltung“, forderte er damals und diesen offenen Einblick will er jetzt auch seinen Vereinsmitgliedern in das Stuttgarter Rathaus verschaffen. „Jetzt haben wir dort jemanden, dem wir vertrauen. Ralph ist unser Transparenzbeauftragter“, freut sich „Putte“.

Plakate werden zum Sammlerstück

Ein Beauftragter, der den Wahlkampf schon mal beim Joggen oder vom Fahrrad aus geführt hat: „Von meiner Lenkerbox aus verteilte ich die Flyer und kam so mit den Leuten ins Gespräch“, erzählt Schertlen. Nun klemmen die Wahlplakate wieder hinten auf seinem Gepäckträger. Während die Stadtisten ihre Aushänge abmontierten, begegneten ihnen die Mitglieder der anderen Parteien. „Ich muss euch etwas gestehen“, sagte ein Konkurrent plötzlich: „Eure Plakate sind so schön, dass ich nicht widerstehen konnte. Jetzt hängt das Bild mit dem blauen „d“ in meinem Wohnzimmer.“