Bei der Tagung „Social Mania“ wurde viel über Politik und Netzwerke diskutiert. Ein Wahlkampfmanager zeigte, wie vielfältig sich Facebook und Co. nutzen lassen.

Stuttgart - Als am Freitagmorgen die ersten Referenten des zweiten Tages ihre Thesen vorstellten, lag die Befürchtung nahe: „Social Mania“ an der Stuttgarter Hochschule für Medien würde wieder so ein Kongress über die sozialen Medien werden, in der sich die Teilnehmer kollektiv daran berauschen, wie die Unterdrückten und Entrechteten dieser Welt dank Twitter und Facebook zum großen Schlag gegen das Establishment ausholen. Es kam dann zum Glück anders.

 

In Deutschland befindet sich die Debatte über die sozialen Medien noch in einem, wie es der Tübinger Journalistikprofessor Bernhard Pörksen am Donnerstag ausgedrückt hat, pubertierenden Stadium. Das Narrativ, also die zu einer Geschichte verdichtete Botschaft, der deutschen Internetpropagandisten lautet kurz gefasst: „Wir da unten, das Volk, die Zivilgesellschaft, wehren uns mit Tweets, Facebook und Youtube-Videos gegen die da oben, die überwachungssüchtigen Politiker und die profitgeiernden Unternehmen.“ Diese Geschichte erzählte zunächst Anke Domscheit-Berger, Netzaktivistin und Gründerin zweiter Internetunternehmen, als sie von Internetaktionen gegen das internationale Antipiraterieabkommen Acta sprach oder auch nur gegen einen sexistischen Werbebrief der Lufthansa. Diese Geschichte erzählte der Blogger Markus Beckedahl, der sich unter anderem einer Kampagne gegen Ursula von der Leyens Gesetz über Internetsperren rühmte.

Alle stecken mittendrin

„Internetaktivistin“ und „Blogger“ sind zwei Begriffe, die leicht verschleiern, dass diese beiden Protagonisten der Netzgemeinde mit ihrem Narrativ durchaus auch Eigeninteressen vertreten. Domscheit-Berger verkauft Konzepte und Workshops zum „transparenten Regieren und Verwalten“, Beckedahl ist Mitgründer einer Firma, die freie Software für die speziellen Bedürfnisse von Firmen adaptiert, also Geschäftlichsinteressen am offenen Netz hat. Die Verknüpfung von Geschäft mit politischem Engagement ist völlig legitim und geschieht in diesen Fällen nicht im Geheimen. Sie macht aber deutlich: wir haben es nicht mit einem Ringen zwischen Gut (dem Volk) und Böse (Politik und Wirtschaft) zu tun, sondern alle stecken mittendrin und verfolgen (auch) ihre Egoismen.

Niemand vermochte das deutlicher zu machen als Julius van de Laar. Er ist Kampagnen- und Strategieberater, war hauptamtlicher Helfer in Barack Obamas Wahlkampf 2008 und beriet ein Jahr später die SPD, als sie Frank-Walter Steinmeier erfolglos zum Bundeskanzler machen wollte. Seine Plaudereien aus dem US-Wahlkampf wirkten ernüchternd. So verknüpfen die Wahlkampfstrategen Daten aus dem Wählerregister und aus den sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Youtube. Etwas Ähnliches planten vor Kurzem das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam und die deutsche Kreditauskunft Schufa. Sie machten nach Protesten einen Rückzieher.

Die Partei kapert Facebook-Auftritt

Damit nicht genug: in den USA wurden diese Daten mit weiteren Informationen über Einkommen, Lebensverhältnisse, Einkaufsverhalten, Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements abgeglichen. Wer auf Obamas Internetseite klickte, dessen anschließendes Surfverhalten wurde von 32 Cookie-Dateien verfolgt. Inzwischen gibt es eine App für das IPhone, mit der freiwillige Wahlkampfhelfer unentschiedene Wähler mit Hilfe von Geodaten lokalisieren können, um sie persönlich anzusprechen. Mehr noch: wer nicht aufpasst, erlaubt der Partei, seinen Facebook-Auftritt zu kapern. Die Wahlkampfzentrale schickt dann, getarnt als der User, ihre Botschaften an dessen Freundesnetzwerk.

Van de Laar betonte mehrfach, wie wichtig trotzdem die Inhalte seien. Aber letztlich ging es nicht um die Botschaften an sich, sondern vor allem darum, wie sich diese emotionalisieren, polarisieren und in ein Narrativ einbauen lassen. Wie gleichgültig dabei Fakten sind, zeigt ein Vorfall in Deutschland vor zwei Jahren. Damals geisterte das Gerücht durchs Netz, die EU plane ein Verbot von Heilpflanzen. Das Thema erfüllte viele Kriterien, die für eine erfolgreiche Kampagne entscheidend sind: Es betraf viele Menschen; es ließ sich polarisieren, und es bediente das Klischee einer bösen, wirklichkeitsfremden EU-Bürokratie. Folglich funktionierte die Mobilisierung prima. 120 000 Menschen unterzeichneten eine Online-Petition. Nur: ein Heilpflanzenverbot stand nie zur Debatte. Egal, Hauptsache es schadet dem Gegner und nutzt der guten Sache, würden sich US-Wahlkämpfer da wohl denken.

Jeder kann einen Skandal auslösen

Jeder könne dank der Neuen Medien jederzeit über fast jeden Menschen einen Skandal auslösen, der dann durch die Massenmedien immer größere Kreise zieht und zu einem Kontrollverlust über das eigene Bild in der Öffentlichkeit führe. Das hatte Bernhard Pörksen, der Tübinger Medienwissenschaftler, erläutert. Ausreichend Geld, in eine clevere Social-Media-Kampagne investiert, vermag aber sicherlich eine Skandalisierung erleichtern. Obama hatte im Wahlkampf 2008 rund 600 Millionen Dollar Spenden eingesammelt. Sein republikanischer Herausforderer Mitt Romney wird in diesem Jahr möglicherweise auf rund eine Milliarde Dollar kommen.

Daraus ergibt sich die wichtigste Erkenntnis des Kongresses: Facebook und Twitter geben den bislang Stummen und Einflusslosen ein neues Instrument der politischen Partizipation in die Hand. Damit haben die deutschen Internetpropheten recht. Was sie noch lernen müssen: soziale Medien erlauben auch den Reichen und Mächtigen, uns alle noch perfekter und noch flächendeckender zu manipulieren.

Social Mania – der Kongress zu den sozialen Netzwerken

Tagung
Den Kongress „Social Mania“, der in dieser Woche an der Stuttgarter Hochschule der Medien stattfand, haben die Studierenden selbst organisiert. Der Titel der Veranstaltung, auf der es um diegesellschaftlichen Folgen sozialer Netzwerke geht, lautet: „Medien, Politik und die Privatisierung der Öffentlichkeit“. Die Veranstalter versuchen, das Social-Media-Prinzip „Alle dürfen irgendwie mitreden“ auf die Tagungsorganisation zu übertragen. Nach einem Impulsvortrag der Gäste soll das Publikum in Diskussions-Lounges mitreden.

Thinktank
Zum Kongress haben die Studierenden gleich auch noch eine Denkfabrik, auf Englisch „Thinktank“, gegründet. Hier können Interessierte über eine Seite bei Facebook die aktuellen Thesen mitdiskutieren (www.facebook.com/hdmsocialmania) – vorausgesetzt, man ist Mitglied beim umstrittenen sozialen Netzwerk.

Nutzungsquoten
Fast alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Mitglieder in einem oder mehreren sozialen Netzwerken. Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Branchenverbandes Bitcom liegt die Quote bei den 14- bis 29-jährigen bei 92 Prozent. Bei den über 50-Jährigen sind es nur 55 Prozent. Durchschnittlich verbringen Nutzer rund ein Viertel ihrer Internetzeit in sozialen Netzwerken; zwei Prozent widmen sie dem Lesen von Nachrichten.