Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt provoziert eine Debatte, die es sich zu führen lohnt, vergreift sich aber in der Wortwahl, kommentiert Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Für einen, der im Rückwärtsgang denkt, hat Alexander Dobrindt ein erstaunlich kurzes Gedächtnis. Der CSU-Politiker predigt eine „konservative Revolution“ gegen die Erblast, die uns die Generation von 1968 hinterlassen habe. Er nennt das „linke Meinungsvorherrschaft“. Solche Phrasen sind in doppeltem Sinne geschichtsblind. Hat Dobrindt völlig vergessen, dass zwischendurch schon Helmut Kohl zu einer „geistig-moralischen Wende“ aufgerufen hatte? Mit seiner Ignoranz attestiert er dem größten aller C-Kanzler auf diesem Feld historisches Versagen. Von Ignoranz, wenn nicht gar Schlimmerem, zeugt auch die Wortwahl des selbsternannten Revolutionärs. Eine „konservative Revolution“ schwebte schon den Feinden der ersten deutschen Republik vor, deren Geburtsstunde sich heuer zum hundertsten Mal jährt. Die Leute, die diesen fatalen Begriff erfunden haben, wurden zu Wegbereitern Adolf Hitlers. Von einer „konservativen Revolution“ träumen auch dessen geistige Urenkel, die sich Neue Rechte nennen. Sie hatten in der CSU bisher keine Heimat.

 

„Der Prenzlauer Berg bestimmt die Debatte“

Dobrindts Manifest taugt nicht zum Gegenbeweis. Es ist weder revolutionär noch rechtsextrem. Das ist das Beste, was sich darüber sagen lässt. Er schwadroniert über eine Art Leitkultur und redet doch am eigentlichen Thema vorbei. „Der Prenzlauer Berg bestimmt die öffentliche Debatte“, beklagt der Neokonservative. Dabei ist just dort das Spießbürgertum unserer Zeit zu Hause: ein Mikrokosmos, der sich zwischen luxussanierten Altbauwohnungen und laktosefreier Ernährungsweise eingerichtet hat und von allem, was Dobrindt als Gefahren an die Wand malt, möglichst auch nicht behelligt werden möchte.

Ungeachtet aller verbalen Kraftmeierei birgt das Geschwurbel aber einen wahren Kern: Es bringt Phantomschmerzen zum Ausdruck, die tatsächlich viele Leute umtreiben. Es geht um Verunsicherungsgefühle, um vage Ängste vor Identitätsverlust und eine geistige Heimatlosigkeit, Entfremdung im eigenen Land. Der Zustrom hunderttausender Flüchtlinge hat diese Verunsicherung beschleunigt, ist aber nicht ihre eigentliche, schon gar nicht die einzige Ursache. Die Phantomschmerzen, die Dobrindt kurieren möchte, sind Folge eines Zerfalls von Strukturen, die ehedem das Skelett unserer Gesellschaft bildeten: Familien, Vereine, Kirchen, verlässliche Arbeitsplätze, stabile Partnerschaften. Viele sehen, wie der Rechtsstaat an Grenzen stößt, fühlen sich der Globalisierung ausgeliefert, vermissen vor lauter Freizügigkeit und kultureller Beliebigkeit vor allem: Orientierung. Die bieten auch die C-Parteien nicht mehr in hinreichendem Maße. Das hat auch damit zu tun, dass die größere von ihnen auf Angela Merkels Betreiben ihre Traditionsbestände in einem Tempo entrümpelt hat, das nicht alle Anhänger mitgehen konnten – oder wollten.

Verunsicherung beschränkt sich nicht auf bürgerliche Milieus

Die Verunsicherung, auf die Dobrindt nur unzureichende Antworten gibt, beschränkt sich nicht auf das klassische Bürgertum. Sie hat längst auch andere Milieus erfasst, wie die dem „Spiegel“ diktierten Selbstzweifel des früheren SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel verraten, mit denen dieser sich unlängst ähnlichen Ärger einhandelte. Wo Dobrindt konservative Werte vermisst, sehnt Gabriel sich nach dem geordneten Weltbild der alten Sozialdemokratie zurück. Von Heimat und Sicherheit reden sie beide. Beide treibt die Furcht um, ihre Volksparteien vermittelten dem Volk nicht mehr den Eindruck, dessen Sorgen zu kennen und sich darum zu kümmern.

Diese Furcht ist nicht unberechtigt. Deshalb wäre es wünschenswert, vor lauter Provokationen nicht das Anliegen zu verkennen, das sich hinter den Pamphleten der Herren Dobrindt und Gabriel verbirgt. Es geht nicht um linke oder rechte Ziele, sondern um Vertrauen und Identität, um die Frage, was die Demokratie stabil und unser Land zusammen hält.