Ein Saal voll geschmückter Nordmanntannen: Im Stuttgarter Kulturwerk herrscht Waldweihnachtsstimmung.

S-Ost - Einfach mal hinter der Mund-Nasen-Maske tief durchatmen: Das riecht gut hier: Nach Tannennadeln und frischem Harz. Und es wirkt irgendwie beruhigend und entspannend in diesen Corona-Zeiten, die einem schon mal aufs Gemüt schlagen können. Wer im Kreativzentrum auf dem Kübler-Areal sein dort bestelltes Essen abholt, ist überrascht und denkt zumindest einen Moment lang: „Ich glaub, ich steh hier im Wald.“

 

Wie andere soziokulturellen Projekte dieser Art so hat auch das Kulturwerk an der Ostendstraße 106a in diesem Jahr seinen Betrieb massiv herunterfahren müssen. Die Coronakrise hat den dort Aktiven übel mitgespielt. Freie Theatergruppen mussten Aufführungen absagen. Konzerte konnten nicht stattfinden, Filme nicht gezeigt werden, Tänzer nicht tanzen. Wer durch die Einfahrt in den Innenhof geht und einen Blick auf die dort angebrachte bunte Plakatwand mit den vielen Gruppen und den angekündigten, aber wegen der Pandemie ausfallenden Veranstaltungen wirft, der erkennt – auch auf einen Blick: Die Kulturwerk-Schaffenden kämpfen mit massiven Verlusten, wenn nicht sogar um die eigene Existenz.

Hilfe für kranke Menschen

Teil dieses soziokulturellen Mikrokosmos ist auch ein gemeinnütziges Arbeitshilfeprojektes des diakonischen Sozialunternehmens Neue Arbeit. Es hilft psychisch kranken, aber auch suchtgefährdeten und auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbaren Menschen wieder Sinn und Struktur ihren Alltag zu bringen: „Wir betreiben seit 1996 dieses Projekt und bieten für rund 60 Teilnehmer verschiedene Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Ausbildungsmöglichkeiten an“, sagt der Kulturwerksleiter Armin Markmeyer. Das Projekt wird von der Stadt Stuttgart, dem Europäischen Sozialfond und verschiedenen Trägern gefördert; Kooperationspartner sind unter anderem das Jobcenter Stuttgart, die Wilde Bühne und der Verein Release. Es gibt im Haus die Bereiche Veranstaltungs- und Haustechnik, Hauswirtschaft, Gastronomie mit Küche und Service.

In Nicht-Coronazeiten sitzen im großen Saal oder auch draußen auf der Terrasse Gäste und Mitarbeiter an den Tischen, genießen ihr Kirchenerbsencurry mit Schwarzwurzeln, ihre Tortiglioni mit Rosenkohl oder was sonst noch so auf der Wochenkarte steht. Doch in diesen Tagen ist eben alles anders und diffiziler: Küchenchef Anselm Köchert und sein Team bieten jetzt im Kulturwerk coronabedingt nur noch „Essen zum Abholen“ an: Das Angebot wird durchaus goutiert. „Die Mitarbeiter aus den umliegenden Betrieben, Büros und Unternehmen kommen oft zu uns und holen sich hier ihr Essen“, sagt Köchert. Auch aus Solidarität. Zu den Stammgästen zählen Architekten, Ingenieure, Softwareentwickler, Trickfilmer, Physiotherapeuten, Theaterleute, Tänzer oder auch Anwohner. Etwa 50 Essen gehen derzeit täglich über die Abhol-Theke raus – an drei Tagen pro Woche. Auch Karla Roller holt regelmäßig hier für sich und ihre Familie ihr Mittagessen ab. Sie gehört zu den Swingtänzern und Lindy-Hop-Begeisterten, die den Tanz, die Musik und Kultur des Swing schon vor 15 Jahren auf das Küblerareal gebracht haben.

Günstiges Christbaumangebot

„Bei uns treffen ganz viele Berufe und Gewerke aufeinander“, berichtet Küchenchef Köchert. Das Kulturwerk ist auch ein Ort der Begegnung, hier tummelt sich Arm und Reich, Jung und Alt, Einheimische und Reingeschmeckte. Aber weil eben die Begegnungen derzeit gar nicht oder nur sehr, sehr eingeschränkt möglich sind, hat sich das Kulturwerk-Team etwas Besonderes ausgedacht: „Unsere Idee ist: Wenn es schon keine Weihnachtsmärkte in diesem Advent gibt, dann wollen wir einen Ersatz hier bei uns schaffen.“ Köchert schrieb deshalb Weihnachtsbaumhändler an, ein Züchter aus Möglingen machte ein günstiges Angebot. Und so entstand im Kulturwerk ein kleiner Adventswald. Teilnehmer aus allen Arbeitsbereichen des Kulturwerks halfen mit, ihn zu gestalten und schufen in dem Gastraum ein richtiges, kleines Weihnachtsmärchenland. Rund 40 fast deckenhohe Nordmanntannen schmücken den Raum. Zwischen den Nadelbäumen liegen bunt eingewickelte Pakete, Eichhörnchen, Gänse, Enten und Eulen bevölkern als Tierfiguren die Szenerie und in der Mitte steht ein großer weißer Schneemann mit schwarzem Hut. Am Eingang sitzt eine Servicemitarbeiterin im Rentierkostüm mit Hörnern, begrüßt die Gäste, nimmt Bestellungen an und achtet darauf, das nicht zu viele auf einmal ihr Essen abholen.

„Das ist der schönste Arbeitsplatz, den man sich vorstellen kann“, sagt einer der Teilnehmer, der im Servicebereich arbeitet. Und er berichtet: Viele Besucher, die das erste Mal den Raum betreten, würden tatsächlich lachend fragen: „Steh ich im Wald hier?“