Neu entdeckte Akten zeigen, wie Winfried Kretschmann einst trotz seiner kommunistischen Phase Lehrer werden konnte. Geholfen haben ihm Fürsprecher wie der CDU-nahe Uni-Chef Turner – und seine Ehefrau Gerlinde.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Akte „Kretschmann, Winfried“ war zwar vollständig, wie die Seitennummerierung zeigte, aber gleichwohl lückenhaft. Ausgerechnet die spannendsten Fragen blieben offen bei den Unterlagen zum Radikalenerlass, die das Landesarchiv erst 2010 im Keller des Stuttgarter Innenministeriums entdeckt hatte. Wie hatte es der heutige Ministerpräsident vor vierzig Jahren geschafft, nach dem Studium der Biologie und Chemie an der Universität Hohenheim trotz seiner damaligen Nähe zur Kommunistischen Hochschulgruppe zum Referendariat zugelassen zu werden? Und wie gelang es ihm später, nach einem Intermezzo an einer privaten Kosmetikschule doch noch in den staatlichen Schuldienst übernommen zu werden? Dazu fand sich kaum etwas in dem etwa 50-seitigen Konvolut, das nebst etwa 2000 anderen Fällen im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv lagert – und das Kretschmann infolge von StZ-Recherchen Ende vorigen Jahres erstmals selbst zu lesen bekam.

 

Auf dem Aktendeckel indes war handschriftlich ein Kürzel („KM“) vermerkt, das auf mögliche weitere Unterlagen verwies. Das Kultusministerium machte sich auf Nachfrage auf die Suche – und stieß tatsächlich auf eine Personalakte des einstigen Lehrers am Hohenzollern-Gymnasium in Sigmaringen, von deren Existenz nicht einmal Kretschmann selbst wusste. Die Voraussetzungen für eine Übergabe ans Landesarchiv, hieß es ohne nähere Begründung, seien „noch nicht erfüllt“. Der Regierungschef ließ die Akte anfordern, sichtete sie – und gab sie schließlich der Stuttgarter Zeitung und dem SWR-Fernsehen (Donnerstag 19.30 Uhr) zur Einsicht frei, ebenso wie zuvor jene im Archiv. Es handele sich schließlich um ein „Zeugnis der Zeitgeschichte“, hatte er schon sein erstes Plazet begründet.

Karlsruher Urteil hilft Kretschmann

Tatsächlich zeugen die Dokumente von einer Zeit, in der der Staat mit zweifelhaften Methoden Verfassungsfeinde – echte oder vermeintliche – vom Staatsdienst fernhalten wollte. Vor allem aber zeugen sie von Kretschmanns Entwicklung in jenen Jahren: davon, wie seine Zweifel am Kommunismus wuchsen, wie er sich nach und nach davon abwandte und am Ende völlig distanzierte von seinem „größten politischen Irrtum“, wie er es heute nennt. Genauso aufschlussreich ist es, wer alles diesen Prozess beförderte, seinen Wandel wohlwollend begleitete und ihm durch Fürsprache den Weg in den Schuldienst ebnete. Aus dem „Säulenheiligen der Weltrevolution“, wie er an der Uni halb spöttisch, halb respektvoll genannt wurde, war am Ende der „staatlich geprüfte Verfassungsfreund“ geworden, als der sich Kretschmann heute kokettierend bezeichnet.

Als der 27-Jährige 1975 seinen Vorbereitungsdienst antreten wollte, gab es kurzfristig Probleme: zur Last gelegt wurden dem damaligen Asta-Vorsitzenden zwei Kandidaturen für kommunistische Hochschulgruppen. Er sei zwar nie Mitglied gewesen, verteidigte sich Kretschmann, stehe den Gruppen aber „von der Gesinnung nach wie vor nahe“. An den Ungerechtigkeiten der Welt und in Deutschland, die er angeprangert hatte, habe sich schließlich nichts geändert. Mit dieser Ehrlichkeit hätte er sich womöglich die berufliche Zukunft verbaut. Zwei Dinge aber öffneten ihm nach den Akten doch die Türe zum Referendariat: zum einen die „jüngste Rechtsprechung“, womit wohl ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemeint war. Das Recht auf Ausbildung habe Vorrang, entschieden die Richter, erst im Vorbereitungsdienst müssten sich die angehenden Lehrer vollends als zuverlässig erweisen. Dies solle man „dem Bewerber bereits jetzt mitteilen“, heißt es in einer Notiz.