Winfried Kretschmann und Nicole Hoffmeister-Kraut fordern in einem Schreiben an Kommissarin Margrethe Vestager veränderte EU-Beihilferegeln. Das hätte handfeste Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsplätze im Land.

Stuttgart - Die Lage ist ernst für Baden-Württembergs Autoindustrie – so ernst, dass die Europäische Kommission den Weg für staatliche Hilfen und Förderprogramme freimachen soll, die laut EU-Beihilferecht bisher vor allem strukturschwachen Regionen vorbehalten sind. Das ist die Kurzfassung eines Briefes, den Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) in dieser Woche an die Brüsseler Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager geschrieben haben. Er liegt unserer Zeitung vor.

 

Europas Wirtschaft stehe vor tief greifenden Veränderungen, heißt es darin, „besonders betroffen“ sei der deutsche Südwesten mit 470 000 Beschäftigten in der Autoindustrie, in gut 1000 kleinen und mittleren Zulieferer- und Ausrüsterbetrieben sowie in 8000 Kfz-Werkstätten und Autohäusern. Baden-Württemberg befindet sich, folgt man Kretschmann und Hoffmeister-Kraut, „am Beginn einer historischen Zeitenwende“, weil Digitalisierung und Klimaschutz zu einem doppelten Strukturwandel führen und besonders hohe Investitionen erforderlich machen.

Baden-Württemberg ist zu wohlhabend

Hier setzt die Kritik am europarechtlichen Status quo an. Derzeit seien, wie Vestager es aus Stuttgart zu hören bekommt, „baden-württembergische Unternehmen, die Innovationen entwickeln und hierzulande ansiedeln wollen, zahlreichen Standortnachteilen ausgesetzt“. Durch „Fördervorteile“, die Firmen in Low-cost-Ländern innerhalb und außerhalb der EU gewährt werden könnten, drohe eine akute Gefahr, dass immer mehr Unternehmen Innovationen in diese Länder verlagern.

Um Wettbewerbsverzerrungen auf dem EU-Binnenmarkt zu verhindern, müssen alle Staatsbeihilfen entweder europarechtlich abgesichert oder in Brüssel genehmigt werden. Eine feste Ausnahme gibt es bereits für Regionalbeihilfen: Dazu erstellen die Mitgliedstaaten sogenannte „Fördergebietskarten“, die sich an der Wirtschaftsleistung pro Kopf im Verhältnis zum EU-Durchschnitt orientieren.

Für Tesla in Brandenburg gibt es Zuschüsse – im Land nicht

Das mag abstrakt klingen, es hat aber handfeste Folgen. So konnte etwa das ökonomisch unterdurchschnittlich entwickelte Land Brandenburg in völliger Übereinstimmung mit EU-Recht dem US-Elektroautobauer Tesla Staatshilfe für die Ansiedlung seiner „Gigafactory“ in Aussicht stellen. Baden-Württemberg, das über kein einziges Fördergebiet verfügt, kann dagegen aktuell dem Zulieferer Schaeffler Automotive wenig anbieten, dass ein neues Entwicklungszentrum nicht in Ungarn, sondern im badischen Bühl entsteht.

Kretschmann und Hoffmeister-Kraut halten es daher für „dringend erforderlich, dass die Standortnachteile, die derzeit Unternehmen aus strukturstarken Regionen belasten, schnell und wirkungsvoll mit geeigneten Fördermaßnahmen auf europäischer Ebene ausgeglichen werden“. Für die ohnehin laufende Überprüfung der Beihilferegeln schlagen sie Veränderungen vor, die auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme verlangt hat: „Gerade in Zeiten tiefer struktureller Umbrüche ist es zentral wichtig, dass sich die Förderpolitik der Europäischen Union auch an Exzellenzkriterien orientiert.“

Das Ländle ist wie ein Kohlerevier zu behandeln

So fordert das Land nun die „Schaffung eines neuen Fördertatbestandes“, damit auch strukturstarke Regionen Investitionen in innovative und umweltfreundliche Technologien direkt fördern können. Dazu werden auch Weiterbildungsmaßnahmen für Beschäftigte gezählt.

Angeregt wird zudem, die Bagatellgrenze, unterhalb derer keine Beihilfegenehmigung verlangt wird, von 200 000 auf 500 000 Euro anzuheben. „Dies würde insbesondere auch den kleinen und mittleren Unternehmen helfen“, schreiben Kretschmann und Hoffmeister-Kraut. Nicht zuletzt verlangen sie, dass der milliardenschwere „Just Transition“-Fonds, der Kohleregionen auf dem Weg zur EU-Klimaneutralität bis 2050 finanziell unterstützen soll, geöffnet wird: „Für Baden-Württemberg ist die Situation in der Automobilbranche vergleichbar mit Gebieten, welche die Folgen der Abkehr von fossilen Brennstoffen spüren.“