Im ostukraninischen Slavjansk sind die Kämpfe Vergangenheit, doch andernorts werden wieder Flugzeuge abgeschossen. Knut Krohn berichtet in seiner Reportage aus einer Region voller Chaos, Lügen und Trauer.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Slawjansk - Nichts erinnert hier an den Krieg. Träge schleppt sich das Leben über den großen Platz vor dem Rathaus von Slawjansk. Die meisten Menschen meiden die weite, offene Fläche. Nicht weil sie Angst vor Scharfschützen oder Granatbeschuss haben, sondern weil die Sonne erbarmungslos vom Himmel brennt. Auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes im spätkommunistischen Betonstil baumelt müde die ukrainische Flagge, um die so verzweifelt gekämpft worden ist. Der Alltag hat die Stadt Slawjansk wieder fest im Griff – so scheint es zumindest.

 

Wer nach der viermonatigen Belagerung durch die ukrainische Armee fragt, trifft auf eine Mauer des Schweigens. Kaum ein Wort über die Zeit, als die Stadt im Osten der Ukraine die gefürchtete Hochburg der prorussischen Separatisten war. Weit über die Hälfte der 120 000 Einwohner zählenden Stadt sollen damals aus Angst ihr Zuhause fluchtartig verlassen haben, um Unterschlupf bei Verwandten und Bekannten in anderen Teilen des Landes zu suchen. „Was soll ich schon erzählen“, sagt eine Frau, die ein kleines Lebensmittelgeschäft in einer Seitenstraße des Lenin-Boulevards betreibt. Sie repräsentiert den Prototypen jener Verkäuferinnen, die sich aus der untergegangenen Sowjetunion in die Neuzeit hinübergerettet haben: untersetzt, Kittelschürze, etwas zu stark geschminkt und äußerst robust im Auftreten.

Kein Strom und kein Wasser

„Es wurde geschossen, vor allem nachts“, sagt sie. Auf der anderen Seite des Rathausplatzes, auf dem Karl-Marx-Boulevard, sei eine Granate in ein Haus eingeschlagen. Sie selbst habe nichts gesehen, sie habe ihre Arbeit getan, das Leben sei irgendwie weiter gegangen. Und ja, es stimme, am Ende habe es kaum mehr Strom und Wasser gegeben. Mehr möchte die Frau nicht erzählen und ihren Namen werde sie auch nicht nennen.

Offensichtlich ist, dass die ukrainische Armee in Slawjansk nicht mit offenen Armen empfangen wurde. Überaus suspekt ist den Menschen im Osten der Ukraine, was in der Hauptstadt Kiew geschieht. „Mit dem Putsch vor zehn Jahren hat doch alles begonnen“, sagt ein Mann, der auf dem Karl-Marx-Boulevard an einem kleinen Kiosk im Schatten lehnt. „Der Putsch“ ist seinen Augen die im Westen jahrelang verklärte Orange Revolution. Nun würden wieder „irgendwelche Leute“ versuchen, die Macht in Kiew an sich zu reißen, um sich die eigenen Taschen zu füllen. Er könne keinen Unterschied erkennen zwischen den Rebellen und der Armee, sagt der Mann. „Wir wollen nur endlich in Ruhe gelassen werden“, raunt er noch, dreht sich weg und geht, als habe er erkannt, dass er schon zu viel gesagt hat.

In der fernen Hauptstadt Kiew

Während die Menschen vor Ort lieber schweigen, wird in der fernen Hauptstadt Kiew umso mehr erzählt von den Monaten der Besatzung in Slawjansk. Exekutionen habe es gegeben, sagt Anastasia. Sie stammt aus Lemberg und studiert in Kiew Architektur. Die „Terroristen“ hätten alle erschossen, die sich ihnen in den Weg stellten. Beweise für diese Behauptung hat Anastasia keine. „Das ist wahr, ich habe es gelesen und es wird doch überall erzählt“, rechtfertigt sie sich. Es gibt viele Geschichten wie diese, keine lässt sich belegen. Sichere Informationen sind auch schon wenige Kilometer von den Kampfplätzen entfernt kaum mehr zu bekommen. Das lässt sehr großen Raum für die wildesten Spekulationen. Angeheizt wird die Gerüchteküche noch durch das Internet. In Blog-Einträgen ist von unvorstellbaren Gräueltaten die Rede – die natürlich immer nur von der Gegenseite verübt worden sind.

Im Moment machen Horrornachrichten aus Donezk die Runde. Nach dem Rückzug aus Slawjansk haben sich die prorussischen Rebellen in der rund 90 Kilometer südlich gelegenen Industriemetropole festgesetzt und konzentrieren sich auf die Verteidigung der Millionenstadt gegen die anrückende ukrainische Armee. Die Separatisten hätten in der Militärakademie ihr Hauptquartier eingerichtet. In ukrainischen Zeitungen werden jeden Tag Augenzeugenberichte veröffentlicht, die von Diebstählen und Plünderungen erzählen. Es herrsche Anarchie. Entführungen seien an der Tagesordnung. Die Opfer würden erst gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wieder frei gelassen. Das öffentliche Leben sei praktisch zum Erliegen gekommen.

Viele Geschichten ranken sich um Strelkow

In den Berichten über das Treiben der Separatisten in Donezk fällt oft der Name Strelkow, der „Kampfname“ von Igor Girkin, um den sich viele Geschichten ranken. Nach eigenen Angaben hat er einst beim russischen Geheimdienst gearbeitet und soll nun eine bis zu 4000 Mann starke pro-russische Rebellentruppe befehligen. Er soll auch OECD-Mitarbeiter entführt haben. An seiner Mission lässt Strelkow keine Zweifel. In einem Interview hat er jüngst klar gemacht, dass er die ganze Ukraine „von den Faschisten“ in Kiew befreien werde. Klar ist ihm aber, dass er seinen Plan nicht aus eigener Kraft in die Tat umsetzten kann. Immer wieder hat er sich über die mangelnde Unterstützung aus Russland für seine Kämpfer beklagt. Offensichtlich hoffte Strelkow, dass Moskau, wie auf der Krim, früher oder später mit eigenen Truppen in den Osten einmarschieren würde.

Inzwischen machen auch Gerüchte über einen Streit zwischen den Führern der verschiedenen Separatistengruppen die Runde. Die nach ihrer Meinung fehlende Hilfe aus Russland und der Rückzug aus Slawjansk zur „Frontbegradigung“ zehren offensichtlich an den Nerven der Kämpfer. Zudem werde das Leben in Donezk mit jedem Tag beschwerlicher, was offensichtlich die Unterstützung in der Bevölkerung merklich schwinden lässt.

Rätselraten um den Abschuss

Womöglich ist dieser Streit auch Ursache für den Abschuss zweier ukrainischer Kampfjets am Mittwoch. Die Regierung in Kiew beteuert, dass ihre Flugzeuge von russischem Territorium aus abgeschossen worden sind. Es könnte der Versuch sein, Russland tiefer in den Konflikt zu ziehen. Die Piloten konnten sich retten.

Gerüchte gibt es auch, dass der Abschuss des malaysischen Flugzeugs den Streit unter den Separatisten weiter angeheizt habe. Zwar hat sich keine der Gruppen dazu bekannt. Der einflussreiche Rebellenkommandeur Alexander Chodakowski hat in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters allerdings eingeräumt, dass die Separatisten über Buk-Luftabwehrraketen verfügt haben. Chodakowski sagte, das Buk-System stamme möglicherweise aus Russland. Es könne sein, dass es dorthin zurückgebracht worden sei, um zu verschleiern, dass die Rebellen darüber verfügt hätten. Chodakowski ist ein früherer Chef einer Anti-Terror-Einheit in Donezk. Zwischen ihm und Igor Strelkow war es in der Vergangenheit zu Reibereien gekommen.

Die USA haben am Mittwoch ihren Druck auf Moskau erhöht, indem sie Geheimdiensterkenntnisse zu dem Schluss zusammenfassten, die Separatisten hätten die Passagiermaschine versehentlich abgeschossen. Russland trage für seine inoffiziellen Verbündeten die Mitverantwortung. Denn ohne Hilfe aus Russland wären die Kämpfer wahrscheinlich schnell am Ende.

Die Klage der Ermittler

Die Separatisten haben zuletzt erklärt, mit den internationalen Ermittlern kooperieren zu wollen. „Was diese Leute Kooperation nennen weiß ich nicht“, entfährt es allerdings einem Mitglied eines Ermittlerteams aus den Niederlanden. Die Männer und Frauen waren am Dienstag in Charkiw eingetroffen, wo die Opfer des Absturzes aus einem Kühlzug in Flugzeuge verladen wurden, die sie für weitere Untersuchungen in die Niederlande bringen. Gestern kamen dort die ersten an. Die internationalen Spezialisten klagen, dass sie nicht ungehindert vor Ort operieren dürfen und sich offensichtlich bereits andere, unbefugte Leute an der Absturzstelle zu schaffen gemacht haben.

„Wir vermuten, dass noch weitere Opfer an der Absturzstelle liegen und geborgen werden müssen“, unterstreicht deswegen auch Esther Naber, Sprecherin der niederländischen Mannschaft. „Es kommt darauf an, dass wir alle verwertbaren Spuren finden und sichern.“ Aus Holland kommt die Nachricht, dass lediglich 200 Leichen übergeben worden sind. An Bord waren 298 Passagiere. Um ihre Arbeit nicht noch weiter zu erschweren, sind die Ermittler aus den Niederlanden und Malaysia allerdings sehr zurückhaltend, wenn sie die Transparenz und den professionellen Ablauf des Verfahrens beurteilen.

„Die Wahrheit kommt nie ans Licht“

„Wieso soll es jetzt anders laufen als früher“, sagt ein ukrainischer Journalist nach der Präsentation der Ermittlungsergebnisse zum Flug MH17 in Charkiw. Seinen Namen will er nicht nennen, nur soviel, dass er bei einem Medium arbeitet, das eher „der russischen Seite“ zuzurechnen ist. „Die ganze Wahrheit wird nie ans Licht kommen.“ Es sei wie immer, erklärt der junge Mann schon voller Berufszynismus, man könne alles recherchieren, es gebe aber immer jemanden, der irgendwelche wichtigen Informationen zurückhalte oder manipuliere. „Das ist auch in diesem Fall nicht anders“, so seine Überzeugung.

Was den jungen Journalisten eher bedrückt, sind die langfristigen Folgen des Krieges in seinem Land. Er glaubt, dass durch die Revolte auf dem Maidan und den Krieg im Osten des Landes die Gesellschaft in der Ukraine eine völlig andere geworden ist. „Freunde waren wir nie, wir im Osten haben die Leute aus Kiew oder Lemberg nicht gemocht, aber wir haben irgendwie ganz gut zusammengelebt.“ Jetzt sei die Gesellschaft tief gespalten, jeder Bürger sehe sich gezwungen, eine knallharte Position zu beziehen: für oder gegen den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, für oder gegen Putin, für oder gegen Russland, für oder gegen den Westen. Ein Zwischendrin gebe es nicht mehr. Dass sein Land an dem Konflikt zerbricht, glaubt der junge Mann allerdings nicht. „Besser gesagt, ich hoffe es nicht“, sagt er. Die Wunden seien sehr tief, es werde ewig dauern, bis sie verheilt sind.