Der Ministerpräsident und seine Migrationsministerin besuchen die Erstaufnahmestelle in Sigmaringen, der Landtag debattiert über die Organisation der Flüchtlingsströme und stellt dabei allerlei Koordinationsprobleme fest.

Baden-Württemberg schafft mit Hochdruck weitere Plätze für Flüchtlinge aus der Ukraine. Das sollten Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und die für Migration zuständige Justizministerin Marion Gentges (CDU) bei einem Besuch der Landeserstaufnahmestelle in Sigmaringen am Mittwochnachmittag würdigen. Dort wurden „binnen weniger Tage“ 800 zusätzliche Plätze geschaffen, lobte Kretschmann. Insgesamt gebe es nun rund 10 000 Erstaufnahmeplätze im Land.

 

Organisation verbesserungsbedürftig

Die Hilfsbereitschaft gegenüber Kriegsflüchtlingen ist groß, die Organisation lässt zu wünschen übrig. Das hat die Debatte des Landtags zum Thema „Flucht vor dem Krieg. Heute helfen und auf morgen vorbereiten“, deutlich gemacht. „Klare Strukturen und Verfahren“, mahnt Andreas Deuschle (CDU) an. „Wir erleben die größte Flüchtlingskrise seit dem zweiten Weltkrieg“, sagt er und sieht den Bundeskanzler in der Pflicht. „Das Gebot der Stunde heißt Koordination. Der Informationsfluss muss verbessert werden“.

SPD-Chef erwartet doppelt so viele Flüchtlinge wie 2015/16

Der SPD-Fraktionschef Andreas Stoch rechnet mit doppelt so vielen Flüchtlingen wie in den Jahren 2015/16. Damals kamen 101 000 Menschen pro Jahr nach Baden-Württemberg. Ministerin Gentges geht zumindest davon aus, dass diese Zahl übertroffen wird. Das Problem ist die Verteilung. Stoch sieht eine „riesengroße logistische Herausforderung“. Er will, dass vom Landtag die Botschaft ausgeht, „wir reagieren solidarisch in einem solidarischen Europa“. Er betonte auch, „Baden-Württemberg muss an einer ordnungsgemäßen Verteilung interessiert sein und sich dafür einsetzen.“

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Die Ministerin berichtete von 7800 Flüchtlingen in den Landeserstaufnahmestellen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer seien aber bei Freunden und Verwandten untergekommen. „Tatsächlich sind die Zahlen weitaus höher“, wie hoch, wisse man nicht. Das Land hat seine Aufnahmeplätze bereits erhöht. Auch in der Messe Stuttgart hat das Land Kapazitäten geschaffen. Gentges kündigte an, dass weitere Hallen umfunktioniert werden könnten.

Zusammenarbeit mit den Kommunen gut, mit dem Bund weniger

Sie lobte den „engen Schulterschluss mit den Kommunen und den Landkreisen“. In der Zusammenarbeit mit dem Bund und bei der Verteilung auf die Bundesländer bleiben Wünsche offen. Nach dem gängigen Verteilmodus, dem Königsteiner Schlüssel, müssten 13 Prozent der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge nach Baden-Württemberg kommen. „Letztlich geht es um Kommunikation“, sagte Gentges. „Es würde sehr helfen, wenn wir informiert würden, wann oder ob Busse losgefahren sind“, auch eine Ankündigung, mit wie vielen Flüchtenden zu rechnen sei, fände sie hilfreich.

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„Es geht um ein Mindestmaß an Planungsmöglichkeit“, meinte die Ministerin. Schließlich setze das Land für die Organisation viele Helfer ein – hauptamtliche und vor allem viele ehrenamtliche. Im Zweifel stehen die Helfer tatenlos herum, schilderte Gentges am Beispiel. Für Sonntag seien rund 1800 Flüchtlinge für Baden-Württemberg angekündigt gewesen. Gekommen seien schließlich rund 100 in die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes.

Ministerin hofft auf bessere Kommunikation

Dass die Prognosen schwierig seien, findet die Ministerin verständlich, aber eine bessere Kommunikation mit dem Bund wünscht sie sich doch – und auch eine einfachere Registrierung. Dass die Ankommenden registriert werden müssen, steht für Gentges außer Frage. „Wir können den Geflüchteten nur Leistungen gewähren, wenn sie registriert sind“. Dazu kämen auch „handfeste Sicherheitsinteressen des Staates.

Die Vorgaben des Bundes zur Registrierung bezeichnete Gentges als ausgesprochen „schwierig in der Handhabung“. Nicht nur bei der Aufnahme, auch im Bildungssystem muss das Land „einen Gang hochschalten“, wie Andreas Stoch verlangte. Die geflüchteten Kinder haben Anspruch auf Bildung und Betreuung. Bis jetzt werde das pragmatisch gehandhabt. Hans-Dieter Scheerer (FDP) erwartet dazu nun „eine Strategie der Landesregierung“. Die Koalition müsse dafür sorgen, „dass Flüchtlinge schnellstmöglich Deutsch lernen und unterrichtet werden“. Auch Schulabschlüsse sollten rasch anerkannt werden, da die Geflüchteten aus der Ukraine im Gegensatz zu Asylsuchenden vom Tag ihrer Ankunft an eine Arbeit aufnehmen dürfen.

Flüchtlinge nicht gegeneinander ausspielen

Noch ist die Hilfsbereitschaft groß, doch Daniel Lede Abal (Grüne) warnte ebenso wie Andreas Deuschle (CDU) und Andreas Stoch (SPD) davor, die Geflüchteten gegeneinander auszuspielen. Lede Abal sagte: „Wir dürfen die anderen Geflüchteten nicht aus dem Blick verlieren. Wir wollen keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse. Wir müssen humanitär allen gerecht werden.“

Das sieht die AfD anders. Ihr Abgeordneter Rainer Podeswa betonte: „Die AfD-Landtagsfraktion stand selbstverständlich immer hinter der Aufnahme echter Flüchtlinge“. Das Land müsse Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen. Er lobte ausdrücklich EU-Staaten wie Polen und Ungarn, die sich jetzt in der Aufnahme engagierten.

Bei allen aktuellen Unwägbarkeiten ist für Migrationsministerin Gentges eines gewiss: „Wir stehen vor großen Anstrengungen“ und das möglicherweise auf Jahre hinaus.