Auch Friedrich Ani steht in der Tradition des semirealistischen Großstadtkrimis. Sein Ex-Polizist Tabor Süden, der nun für eine Detektei arbeitet, kommt viel herum, bei den armen Leuten und bei den Reichen, und er findet bei den einen wie bei den anderen Unglück, Frustration, Einsamkeit. Aber dieser klassische Berufsstreuner, der uns das Zuviel an Unordnung und Unglück vorführen kann, steht eben auch in der anderen Tradition des britischen Krimis. Denn er war Vermisstenfahnder und ist auch jetzt als Privatermittler Spezialist für das Aufspüren rätselhaft Verschwundener.

 

Kaum schöne Lösungen in Südens Gewerbe

Die Lücke im Leben der Zurückgebliebenen ist nicht bloß bequemer Anlass, eine neue Tour durch das München der Frustrierten, Abgekapselten und Verhärteten zu beginnen: die Lücke ist das große Thema. Das Verschwinden von Jemandem ist der bedrohliche Anlass, der alle Lebenslügen nach oben bringen und auch alles tatsächlich an Vertrauen, Strukturen und Sicherheiten Aufgebaute zum Einsturz bringen könnte. Je mehr Süden sich müht, diese Lücke zu schließen, desto näher kommt er manchmal, so auch in „M“, einer anderen Lücke, jener im Leben der Verschwundenen, die ihn zum Durchbrennen oder Abtauchen gebracht hat.

Wenn Süden dieses Wissen um die Beweggründe des Verschwundenen zurückbringt ins Leben der Suchenden, dann kann das so destruktiv sein wie die Ungewissheit zuvor. Eigentlich gibt es kaum Chancen auf schöne Lösungen in Südens Gewerbe, auch einmal Gefundene wollen ja oft nicht zurück ins Alte. Aber darum scheint Süden diesen Job zu machen, um nach wegen des Umgangs mit den Lücken zu suchen, von denen es auch in seinem eigenen Leben viele gibt.

Britisches, Amerikanisches und Braunes

Diese Eigenart führt in unserem Gefühlsleben zu jener leicht reizbaren Promiskuität, die Vertrauen untergräbt und Geborgenheit zersetzt. In der Sphäre der Ökonomie hält sie ein System aus Unzufriedenheit, Bedürfniskitzel, Befriedigungskonsum und erneuter Unzufriedenheit am Laufen. In der Welt des Denkens aber hat uns diese Unruhe von den Bäumen getrieben, hat uns Werkzeuge schaffen, wissenschaftliche Systeme ertüfteln und aus einer trüben Suppe des Aberglaubens Wahrheiten über das Universum destillieren lassen. Wir wollen nicht nur haben, was wir noch nicht haben. Wir wollen wissen, was wir noch nicht wissen.

Was im Landhaus wirklich los ist

Diesem Erkenntnisdrang kann man nicht nur in Darstellungen beispielsweise der Geschichte von Physik, Biologie und Chemie nachspüren. Man begegnet ihm auch im klassischen britischen Kriminalroman. Dort geschieht in einer überschaubaren Kunstwelt voller Routinen, Regeln und Gewohnheiten etwas Außergewöhnliches, das sich den Augen und Ohren selbst der nahebei Befindlichen weitgehend entzieht. Sichtbar wird die Leiche, aber die Tathergang selbst und damit auch der Täter sind noch verborgen. Der aber muss schnellstens gefunden werden, und das nur ganz oberflächlich eines Gerechtigkeitsempfindens wegen.

Was Leser und Detektiv umtreibt, ist die Lücke im Wissen, die Leerstelle im Bekannten. Sie muss aufgefüllt werden, weil sie die lose Masche sein könnte, die das gesamte Gewebe der Wirklichkeit seinen Zusammenhalt kosten könnte. Klassische britische Krimis erzählen von der Unduldsamkeit gegenüber der Wissenslücke: als sei sie das schwarze Loch, in das alles Bekannte stürzen könnte.

Was die Hartgesottenen antreibt

Der amerikanische Hardboiled-Literatur, die zeitlich auf die britischen Rätselkrimis folgte, wird als die realistischere der beiden Krimischulen gepriesen: statt entrückter Landhausidyllen und possierlicher Figuren bietet er Großstadtdreck und bedrohlich zwielichtige Typen. Das ist keine falsche Grobeinteilung, aber die beiden sehr gegensätzlichen Krimitraditionen unterscheiden sich noch sehr viel spannender in ihrem Verhältnis zur Lücke.

Die gibt es auch in den hartgesottenen Detektivgeschichten von Dashiell Hammett und Raymond Chandler: Mord, Raub und Entführung sorgen für Leerstellen und Rätsel. Aber nicht das Zuwenig ist prägend, sondern das Zuviel: der Detektiv - und jeder andere in diesen Romanen, der keine Scheuklappen trägt – weiß bereits, wie schlecht und gefährlich die Großstadt ist, wie wenig die offizielle Variante ihrer Geschäftigkeit mit ihrem tatsächlichen Funktionieren zu tun hat, wie weit die Korruption vorangeschritten ist, welche Macht die organisierte Kriminalität ausübt.

Rettung in der großen Unordnung

Das einzelne Verbrechen stellt in diesen Romanen nichts Neues dar, keine unerhörte Herausforderung an die etablierte Ordnung, es ist nur noch ein weiteres Partikelchen der längst vorhandenen Unordnung. Der Detektiv will nicht eine Lücke schließen, er will ein Zuviel abwehren, das nun in sein Leben und das seiner Klienten dringt. So rotzig die Dialoge sein mögen, so herb die Beschreibungen des Geschehens, auf ihre Art sind Hardboiled-Krimis ebenso Symbolspiele wie die britischen Mordrätsel.

Es ist eine symbolische, um nicht zu sagen, eine quixotische Geste, dass der Detektiv den Kampf aufnimmt, den Mörder finden, die Entführte retten, die Erpressung abwenden, das Geraubte wiederbeschaffen will: dies eine Mal soll das Verbrechen nicht gewinnen. Der Mietschnüffler soll jemanden retten, aber das hohe Risiko und die schlechte Bezahlung werden so fot betont, dass jedem Leser klar wird: ein bloßer Job ist das keineswegs, nicht einmal einer für Kerle mit Helfersyndrom.

Der Detektiv rettet eigentlich nicht andere, er rettet sich selbst. Er könnte nicht leben in den Gefühlen der völligen Ohnmacht, des Herankriechens unklarer Bedrohungen, des Wegschauenmüssens aus Gründen des Selbsterhalts. Er muss sich hier und jetzt und immer wieder einzelnen kleinen Tentakeln des Molochs der Unordnung entgegenstellen, um sich selbst ertragen zu können.

Was Ani sich aus der Tradition holt

Auch Friedrich Ani steht in der Tradition des semirealistischen Großstadtkrimis. Sein Ex-Polizist Tabor Süden, der nun für eine Detektei arbeitet, kommt viel herum, bei den armen Leuten und bei den Reichen, und er findet bei den einen wie bei den anderen Unglück, Frustration, Einsamkeit. Aber dieser klassische Berufsstreuner, der uns das Zuviel an Unordnung und Unglück vorführen kann, steht eben auch in der anderen Tradition des britischen Krimis. Denn er war Vermisstenfahnder und ist auch jetzt als Privatermittler Spezialist für das Aufspüren rätselhaft Verschwundener.

Kaum schöne Lösungen in Südens Gewerbe

Die Lücke im Leben der Zurückgebliebenen ist nicht bloß bequemer Anlass, eine neue Tour durch das München der Frustrierten, Abgekapselten und Verhärteten zu beginnen: die Lücke ist das große Thema. Das Verschwinden von Jemandem ist der bedrohliche Anlass, der alle Lebenslügen nach oben bringen und auch alles tatsächlich an Vertrauen, Strukturen und Sicherheiten Aufgebaute zum Einsturz bringen könnte. Je mehr Süden sich müht, diese Lücke zu schließen, desto näher kommt er manchmal, so auch in „M“, einer anderen Lücke, jener im Leben der Verschwundenen, die ihn zum Durchbrennen oder Abtauchen gebracht hat.

Wenn Süden dieses Wissen um die Beweggründe des Verschwundenen zurückbringt ins Leben der Suchenden, dann kann das so destruktiv sein wie die Ungewissheit zuvor. Eigentlich gibt es kaum Chancen auf schöne Lösungen in Südens Gewerbe, auch einmal Gefundene wollen ja oft nicht zurück ins Alte. Aber darum scheint Süden diesen Job zu machen, um nach wegen des Umgangs mit den Lücken zu suchen, von denen es auch in seinem eigenen Leben viele gibt.

Britisches, Amerikanisches und Braunes

Das Bisherige kann man allen Romanen der Süden-Reihe anrechnen, so wie das Gespür für die einfachen Leute, für den Stillstand der Zeit an vielen Orten mitten in einer trubeligen Stadt, so wie das Lob der Sprache, die Gefühligkeit und Pathos eigenartig mit Nüchternheit, Bescheidenheit und auch Bissigkeit kombiniert.

In „M“ aber wird die Verwirbelung von britischer Lückenangst und amerikanischer Abwehr des Zuviel besonders deutlich. Im Fall eines verschwundenen Taxifahrers, der selbst von der Geliebten, die ihn suchen lässt, nicht klar beschrieben werden kann und von dem es kein Foto gibt, stößt Süden nicht nur auf trostlose private Verhältnisse. Er kommt in Kontakt mit dem braunen Untergrund, mit einem gut organisierten und wehrhaften Netzwerk, mit dem ultimativen Zuviel also: mit einer Gruppe, deren Verästelungen in die Medien und vielleicht auch in den Polizeiapparat reichen.

Nichts bleibt für Süden, wie es war

Ein paar Romane lang konnten wir uns an Südens Polizei- und Detektivkollegen und die im Hintergrund Halt gebenden Strukturen des sich immer wieder weit ins Unklare und Ungewisse wagenden Ermittlers gewöhnen. Ani behält diese Strukturen in „M“ nicht bei, die Romanwelt und ihr Personal werden durch den Zusammenprall mit den Nazis hie und der Polizei da wieder einmal nachhaltig erschüttert. Am Ende ist auch für den sowieso von Selbstzweifeln geplagten Süden vieles anders als am Anfang: was keinesfalls Normalität im Serienkrimigewerbe ist.

Ein Buchstabe zum Drehen

Dass der Roman „M“ heißt, könnte man auf die Auftraggeberin der Detektei zurückführen: Mia heißt sie mit Vornamen. Es könnte sich auf ein Stofftier beziehen, das eine traurige Rolle spielt, eine der vielen Knuddelvarianten der Raubkatze Mufasa aus Disneys „König der Löwen“. Man kann es auch als Verweis auf Fritz Langs klassischen Kriminalfilm „M“ aus dem Jahr 1931 sehen, in dem ein Kindermörder gejagt wird – auch die Entführung und Ermordung eines Kindes spielen in Anis Roman eine große Rolle.

Aber der schönste Verweis ist wohl der, dass M ein Buchstabe ist, den man nur ein wenig anders anschauen muss, um ihn ganz anders lesen zu können: als W. So einer ist auch Süden, Held und abgerissene Gestalt, hartnäckiger Verfolger und hilfloser Erdulder. So ein Doppelwesen ist aber auch der ganze Roman, in dem die Handelnden fürchten müssen, statt Material zum Stopfen einer Lücke zu finden würden sie nur weitere Lücken aufreißen.

Das Bewusstsein des Übermaßes an vorhandenem Unglück und das Bedürfnis nach weiterer Erkenntnis lassen einander hier keine Ruhe, sie quälen und zerreißen die Figuren. Wenn man Friedrich Anis „M“ gelesen hat, dann argwöhnt man nicht mehr, dass die Jury es sich bequem gemacht haben könnte. Dann weiß man, dass sie ihren Pott Kaffee getrunken und die Krimis des Jahres aufmerksam gelesen hat.