Wahrheit und Lüge, Fantasie und Erinnerung: Young-ha Kim schreibt in seinen grandiosen Roman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ aus der Sicht eines alzheimerkranken Mörders.

Stuttgart - Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, jetzt siebzig Jahre alt und lebt in einem Dorf in Südkorea. Dichten war eine Passion von ihm, der Dozent seines Lyrikkurses hat ihn sogar zweimal gelobt. Jetzt hat ihm sein Arzt geraten, ein Tagebuch zu führen. Denn nach einer MRT-Untersuchung und einem Kognitionstest hat er bei ihm Alzheimer diagnostiziert: „In welchem Stadium, ist noch nicht sicher. Nach und nach wird Ihr Gedächtnis schwinden. Zuerst das Kurzzeitgedächtnis, dann die Erinnerung an jüngere Ereignisse.“ Und er rät ihm: „Schreiben Sie alles auf und führen Sie die Aufzeichnungen immer bei sich. Es kann sein, dass Sie irgendwann nicht einmal mehr den Weg nach Hause finden.“

 

Und so schreibt er alles auf. Sein erster Eintrag: „Meinen letzten Mord habe ich vor fünfundzwanzig Jahren begangen. Oder waren es sechsundzwanzig?“ Er weiß es nicht mehr genau. „Bei jedem Opfer, das ich begrub, sagte ich mir, beim nächsten Mal machst du es besser. Als ich diese Hoffnung nicht mehr hatte, gab ich das Morden auf.“

Witzig, tragisch, traurig und irritierend

Was so zynisch anfängt, entwickelt sich in den „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ zu einem witzigen, tragischen, traurigen und irritierenden Spiel um Wahrheit und Lüge, Fantasie und Erinnerung, Realität und Alzheimer. Denn tatsächlich entwickelt sich der Alzheimer sehr viel schneller als erwartet, schon bald gesteht Kim, dass er sich an so vieles nicht mehr erinnert. Das ist fatal, denn mit Schrecken muss er feststellen, dass jemand anderes seine Stelle als Serienmörder eingenommen hat, ein Killer, der in seinem Revier wildert. Drei Frauen hat er ermordet, sie an den Händen und Füßen gefesselt. Kurz fragt sich Kim natürlich auch, ob er es war und nur vergessen hat – aber ein Blick in den Kalender zeigt ihm, dass er an den Tagen der Morde ein wasserdichtes Alibi hat. Dann merkt er, dass ihn ein Mann in einem Geländewagen beobachtet.

Auch das Verhältnis zu seiner Tochter Unhi verändert sich. Sie ist jetzt 29 Jahre alt, er hat sie adoptiert, nachdem er ihre Eltern ermordet hat. Jetzt hat er Angst, dass der Mann sie ausspioniert, um sie zu ermorden. Kim ist sich sicher, dass der Mann ein Mörder ist, denn nach einem leichten Auffahrunfall hat er ihm in die Augen gesehen: „Er hatte Schlangenaugen. Sie waren kalt und grausam. Ich bin mir absolut sicher: In diesem Augenblick haben wir uns gegenseitig erkannt.“ Und es wird seine letzte Aufgabe, Unhi vor diesem Kerl zu beschützen. Aber dann kommt sie an und präsentiert ausgerechnet ihn, der Jutae Park heißt, als ihren neuen Freund. Was tun? Sein Ziel ist: „Ich muss ihn umbringen, bevor ich vergesse, wer er ist.“

Was ist jetzt die Wahrheit?

Schnell verwirren sich nicht nur bei Kim die Gedanken, sondern dann auch beim irritierten Leser der Aufzeichnungen: Was ist jetzt die Wahrheit? Ist Unhi tatsächlich seine Tochter, oder ist sie eine Pflegerin und heißt gar nicht Unhi, wie andere behaupten? Ist ihr neuer Freund tatsächlich ein Polizist, wie er selber erzählt, der die alten, ungeklärten Morde noch aufklären will? Hat sich Kim das alles eingebildet, oder treibt die Polizei einen üblen Scherz mit ihm? Immer wieder stellt sich auch Kim diese Frage, die ihn in seine weiter zurückliegende Vergangenheit treibt, die mit dem wachsenden Chaos in seinem Kopf kollidiert. Auch mit seinen Aufzeichnungen, die seine steigende Unsicherheit zeigt, wird er diesem Chaos nicht mehr Herr.

Kims „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ ist ein grandios komponierter Psychothriller, in dem in kleinen Abschnitten die Welt streng aus der Sicht des alzheimerkranken Kim erzählt wird. Immer wieder stellt er Lücken in seinem Gedächtnis fest, findet sich auf einer Polizeistation wieder, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen ist, vergisst Namen und die Telefonnummer seiner Tochter und glaubt sich an eine Schwester zu erinnern. Und gehört der Hund, der manchmal auftaucht, ihm oder nicht – dreimal wird er erwähnt, immer wird etwas anderes erzählt. Oder beginnt überhaupt alles schon vor vielen Jahren mit dem Autounfall nach dem Mord an Unhis Mutter (seinem letzten Mord), nach dem er zweimal am Gehirn operiert wurde? Muss man den gesamten Roman von dort aus lesen?

Der Roman hat aber nicht nur eine stringente Krimihandlung und zeigt aus der Ich-Perspektive den Realitätsverlust eines Alzheimerkranken, er geht auch humorvoll damit um, wenn es zum Beispiel heißt: „Alzheimer ist ein schlechter Scherz, den sich das Leben mit einem alten Serienmörder erlaubt“. Und auch der Erzähler selbst leistet sich schlechte Scherze, indem er seine Morde mit Gedichten vergleicht, „die von Forensikern Tatorte genannt werden und mit dem Blut der Opfer geschrieben sind“. Immer wieder relativiert er seine Taten, bis zum Schluss: „Beängstigend ist nicht das Böse, sondern die Zeit. Denn gegen die sind wir alle machtlos.“

Ein schönes gestalterisches Detail ist bei dem Buch, dass die Seitenzahlen am Anfang deutlich sind, im Lauf des Buchs immer mehr verblassen – eine passende Metapher für das immer undeutlicher werdende Leben des armen Serienmörders.

Young-ha Kim: „Aufzeichnungen eines Serienmörders“. Roman. Übersetzt von Inwon Park. Cass Verlag, Bad Berka 2020. 152 S., 20 Euro