Die Krimtatarin Jamala vertritt die Ukraine beim Eurovision Song Contest in Stockholm. Angesichts der Annektion der Halbinsel durch Russland ist die Kandidatin eine gewagte Wahl.

Das russische Parlament werde verhindern, dass die Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song Contest mit diesem Titel und mit dieser Interpretin ins Rennen gehen darf. Wieder einmal, so Wadim Dengin vom Medien-Ausschuss des Parlaments, solle Russland „öffentlich erniedrigt und an den Schandpfahl“ gezerrt werden. Kollegen sahen das ähnlich: Schon der Vorentscheid in Kiew sei eine Provokation gewesen und politisch motiviert. Sechs Kandidaten hatten es bis in die Endrunde geschafft, Jury wie Publikum kürten Dschamala zur Siegerin.

 

Die 32-jährige Sängerin und Liedermacherin gehört zum Volk der Krimtataren, von denen die Mehrheit beim Volksentscheid über den Russlandbeitritt der Schwarzmeerhalbinsel im März 2014 mit nein stimmte oder das Referendum boykottierte. Allein schon das brachte das Blut großrussischer Patrioten in Wallung.

Provoziert fühlten sie sich auch durch den Titel „1944“. Es ist das Jahr, in dem Stalin die Krimtataren wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht kollektiv nach Zentralasien deportieren ließ. Knapp 200 000 Seelen, von denen die Hälfte schon unterwegs an Hunger, Kälte und Seuchen starb. Auch die jüngste Tochter von Dschamalas Urgroßmutter war darunter, damals gerade mal ein Jahr alt. Ihr und den anderen Opfern sei das Lied gewidmet, mit dem sie im Mai in Stockholm antreten will, sagt Dschamala.

Modernes trifft auf Traditionelles

Der englische Text und die Musik – beides von ihr selbst verfasst – kommen ziemlich modern daher. Den Refrain, durch den die Melodie eines uralten krimtatarischen Volksliedes durchschimmert, singt sie in der mit dem Türkischen eng verwandten Sprache ihres Volkes. „Ich durfte auf dieser Erde nicht leben. Ich durfte mich meiner Jugend nicht freuen“, heißt es darin.

Dschamala werde mit ihrem Song die Welt wach rütteln und die Menschen nicht nur auf die Tragödie vor mehr als 70 Jahren aufmerksam machen, sondern „das Strafgericht stoppen, das erneut auf uns zurollt“, hofft Aydar Muschdabajew vom oppositionellen krimtatarischen Fernsehkanal ATP. Der Sender wurde von den Krimbehörden bereits mehrfach wegen Verdacht auf Extremismus verwarnt und als Sprachrohr der Medschlis diffamiert – der inoffiziellen Selbstverwaltung der Krimtataren, gegen die ein Verbotsverfahren läuft.

Politiker sehen Dschamalas Lied kritisch

Dschamala, so der Fernsehmann, sei sich ihrer Verantwortung bewusst. Der Eurovision Song Contest sei ein unpolitischer Schlagerwettbewerb, kein Agitprop-Festival, stänkerte der russische Schriftsteller Sergei Scharguinow. Dschamala aber mache sich zum Werkzeug von Medschlis-Ehrenpräsident Mustafa Dschemiljew. Dieser hatte zum Boykott des Referendums zum Russland-Beitritt der Krim aufgerufen und nach dem Anschluss sein Mandat im ukrainischen Parlament behalten. Moskau rächte sich mit fünfjährigem Einreiseverbot für die Krim. Moskau, glaubt Alexander Tscherkassow, der Koordinator der Menschenrechtsgruppe „Memorial“, fürchte vor allem, Dschamalas Hommage an die Opfer der Vertreibung 1944 könnte die Zuschauer veranlassen, Parallelen zum Hier und Heute zu ziehen.

Bei einem Sieg hätten die Veranstalter ein Problem

Der Song, befand sogar eine ehemalige russische Song-Contest-Teilnehmerin, die ihren Namen allerdings nicht gedruckt sehen wollte, sei cool, beim Refrain seien ihr, obwohl sie Krimtatarisch nicht verstehe, „Ameisen über den Rücken gelaufen“. Gut möglich, dass Dschamala den Triumph von Ruslana wiederhole. Mit knappem Leder-Outfit, wehender Löwenmähne und einem wilden Tanz aus den Karpaten hatte die aus der Westukraine stammende Sängerin 2004 in Istanbul das Publikum zum Rasen gebracht und die nächste Runde des Song Contest nach Kiew geholt.

Siegt jetzt Dschamala, haben die Veranstalter ein Problem. Die Liedermacherin ist in der Nähe der Krimstadt Sewastopol aufgewachsen, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Dort und nicht in Kiew, argumentieren ukrainische Kulturfunktionäre bereits, müsste nach Dschamalas Sieg der Sängerwettstreit 2017 ausgetragen werden. Die Stadtoberen waren hell empört. Nur wenn Russland in diesem Jahr siegt, stehe Sewastopol im nächsten Jahr als Gastgeber zur Verfügung. Noch indes ist nicht einmal sicher, ob die Eurovision „1944“ überhaupt als Wettbewerbsbeitrag zulässt. Der Text werde derzeit auf „Anstößigkeiten“ geprüft, meldete ein russischer Radiosender. Das Ergebnis wird Mitte März erwartet.