Das Fußvolk der französischen Sozialisten fühlt sich von Präsident und Premier hintergangen, die Sparprogramme und Entlastungen für Unternehmen als linke Politik ausgeben. Anstatt am Tag der Arbeit Flagge zu zeigen, verkaufen sie lieber Maiglöckchen.

Paris - Die Angst sitzt ihnen im Nacken. Stünden sie im Wald, würden sie vielleicht laut pfeifen, um sie zu vertreiben. Aber sie stehen am Seine-Ufer und wollen es mit lautem Singen versuchen. Sozialisten sind es, die sich mit Revolutionsliedern „etwas Mut machen möchten“, wie Marie-Helène Dupont sagt. Die 72-jährige Theaterregisseurin, die seit Mitterrands Zeiten im Ortsverband des elften Pariser Arrondissements für die sozialistische Sache streitet, trägt festes Schuhwerk. Das Haar hat die Französin straff nach hinten gekämmt und fest zusammengebunden. „Raue Zeiten sind das für uns Linke“, sagt sie. Rau ist auch das Wetter. Regenwolken türmen sich zu Bergen, verdüstern die Paläste der Stadt, den Louvre, das Orsay-Museum, den Grand Palais.

 

Aleksander Glogowski, Sprecher des Pariser Sozialisten, hat Parteifreunde und Genossen aus anderen europäischen Ländern zusammengetrommelt, um der vor 40 Jahren siegreichen portugiesischen Nelkenrevolution zu gedenken und im EU-Wahlkampf den Widerstandsgeist anzufachen. Nach dem Kommunalwahldebakel Ende März droht der PS am 25. Mai die nächste schwere Niederlage. Meinungsforscher prophezeien den Sozialisten 18,5 Prozent und Platz drei hinter den Rechtspopulisten des Front National (25 Prozent) und der rechtsbürgerlichen UMP (24 Prozent).

Viel revolutionäres Rot am am Ufer der Seine

Hier am Ufer der Seine stehen die Zeichen auf Sieg. Revolutionäres Rot ist angesagt. Nelken, Fahnen, Glogowskis Hemd und Anorak – alles knallrot. Faltblätter Texten und mit Noten machen die Runde. Das portugiesische „Grândola, Vila Morena“, das spanische „Ay, Carmela“ oder auch die italienische Widerstandshymne „Bella ciao“ sollen zu Ehren kommen, auf dass an diesem Abend die glorreichen Zeiten wiederauferstehen mögen, in denen es noch klare Fronten gab und Sozialisten an der Spitze des Fortschritts marschierten.

Von all dem kann heute keine Rede mehr sein. Die Grundvoraussetzungen revolutionären Aufbegehrens – wachsendes Elend im Volk, sinkendes Ansehen der Regenten – sind zwar gegeben. Die Steuerlast hat mit 47 Prozent des Erwirtschafteten Rekordhöhe erreicht, die Arbeitslosigkeit mit knapp elf Prozent ebenfalls, und die Zustimmung zu Francois Hollande, seit Monaten unbeliebtester Präsident der 1958 gegründeten V. Republik, ist mit nur noch 18 Prozent auf einen neuen Tiefststand gesunken.

Aber was für die Genossen schwer zu verkraften ist, was am Selbstbewusstsein nagt, sie in ihrem Selbstverständnis erschüttert: Der Volkszorn richtet sich gegen sie, die Sozialisten. Gewiss, es sind zunächst die der Wirtschaftskrise nicht Herr werdenden Spitzenpolitiker, die ihn zu spüren bekommen. Aber im Alltag ist es das Fußvolk der Partei, dass für die Politik des Staatschefs und seines Premiers Manuel Valls den Kopf hinzuhalten hat.

Ein Großteil der Gesellschaft sei verraten und verkauft

Philippe Wehrung erlebt sich und seine Mitstreiter als „Punchingball“. „Wir bekommen Schläge von allen Seiten“, erzählt der 36-jährige Vorsitzende des PS-Ortsverbands des elften Pariser Arrondissements. Der Staatschef manövriere das Land auf einem verwirrenden Zickzack-Kurs langsam aber sicher nach rechts, ein Großteil der Gesellschaft bleibe zurück, fühle sich verraten und verkauft.

In der Tat ist Hollande, der nach seiner Wahl das Füllhorn ausgeschüttet und soziale Wohltaten vollbracht hatte, vom Sozialisten zum Sozialdemokraten mutiert. Er hat ein 50 Milliarden Euro schweres Sparpaket geschnürt und den Unternehmen Abgabensenkungen von 38 Milliarden in Aussicht gestellt hat. Und dann hat der Präsident auch noch den zum rechten Parteiflügel zählenden Manuel Valls zum Premier gemacht. Laut einer am vergangenen Wochenende veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts BVA finden 56 Prozent der Sympathisanten der Linken, dass „Hollande nicht mehr links genug ist“.

Wort und Tat klaffen bei den Sozialisten auseinander

„Kaum waren wir mit dem Slogan ,Europas Sparkurs ist ein Irrtum‘ in den Europawahlkampf gezogen, hat der neue Regierungschef das Gegenteil verkündet und klargestellt, dass Frankreich an den mit Brüssel vereinbarten Sparzielen festhalten und das Defizit 2015 auf drei Prozent senken wird“, schimpft Wehrung. „Wenn das so weitergeht, werden wir noch schizophren. Wir sollen so tun, als sei das alles sozialistische Politik. Die Leute sind doch nicht blöd, die merken doch, dass bei uns Wort und Tat auseinanderklaffen.“

So gern Parteilinke wie Wehrung indes auch den Altvorderen die Gefolgschaft aufkündigen, wenn nicht der PS den Rücken kehren würden – der Preis ist den meisten zu hoch. Das Ergebnis konsequenten Aufbegehrens wären Neuwahlen, aus denen die Sozialisten wohl als politische Randgruppe, die Rechten als Gewinner hervorgehen würden. Und so versuchen die Genossen, irgendwie über die Runden zu kommen. Wenn es am 1. Mai dem sozialistischen Ideal huldigen heißt, wollen Wehrung und seine Mitstreiter den Kopf einziehen, sich wegducken. „Wir werden in unserem Stadtviertel Maiglöckchen verkaufen, um die klamme Parteikasse aufzufüllen und uns dann diskret in den Demonstrationszug der Gewerkschaften einreihen“, kündigt der Ortsvorsitzende an.

Verzagter Singsang statt die Botschaften für die Welt

Kein bisschen abendliche Revolutionsromantik ist den Genossen vergönnt. Erst fällt der Strom aus. Der Lautsprecher, aus dem die Stimme eines Vorsängers ertönen sollte, bleibt stumm. Und als auf einem am Seine-Ufer dümpelnden Hausboot eine funktionierende Steckdose gefunden ist, geht den Versammelten die Luft aus. Anstatt die Botschaft in die Welt hinaus zu schmettern, bringen sie nur verzagten, vom Winde verwehten Singsang zustande.

Die Regisseurin Dupont trägt es mit Fassung. „Wie sollen wir überzeugend revolutionären Zeiten huldigen, wenn wir heute keine Vision mehr haben, kein glaubhaftes Projekt, sondern nur jede Menge Zorn, Frust, Ratlosigkeit?“ fragt die Frau, deren Lachfalten von besseren Zeiten künden. Da sei ja nicht nur die Kluft zwischen Parteibasis und Parteispitzen. Die ganze PS biete ein Bild der Zerrissenheit, sagt Dupont. Auch wenn Wehrung nicht gern darüber redet: der Ortsverband des elften Arrondissements sei ebenfalls zerstritten. Sie selbst und ein Teil der Mitstreiter wollten dem Sparprogramm „des kleinen Korporals“, wie sie Valls nennt, eine Chance geben. Für den Rest des Verbands sei das Verrat an der sozialistischen Sache.

In der Nationalversammlung sieht es nicht besser aus. Ein Teil der sozialistischen Abgeordneten hat dem „Stabilitätspakt“ genannten Sparprogramm bei einem die Stimmung auslotenden, „konsultativen Votum“ am Dienstag die Gefolgschaft verweigert. Dabei hatte Valls im letzten Augenblick Zugeständnisse gemacht. Anders als zunächst geplant, würden Renten bis zu 1200 Euro im Monat nun doch nicht eingefroren, hat der Premier angekündigt. Auch werde die Sozialhilfe bereits zum 1. September dieses Jahres angehoben.

Der Vize-Bürgermister will die Schulden drosseln

Zacharia Ben Amar heißt den Sparkurs der Regierung gut. Für den stellvertretenden Bürgermeister und Schulbeauftragten der von Armut und Einwanderung geprägten Pariser Vorstadt Nanterre ist es ein Gebot der Solidarität, der jungen Generation nicht noch mehr Schulden zu hinterlassen.

Aber auch Ben Amar steigt die Zornesröte ins Gesicht, kommt die Sprache auf die Parteioberen. Der 40-jährige Sohn algerischer Immigranten steht auf, geht zum Fenster, zeigt auf Wohntürme. An von Flechten befallene Fabrikschlote erinnern sie. „Das Sozialwohnungsghetto Aillaud ist das, wo ich geboren und aufgewachsen bin“, erzählt er. Das Erziehungsministerium schicke die unerfahrensten Lehrer dorthin, die Jugendarbeitslosigkeit liege bei 40 Prozent, kaum ein Franzose weißer Hautfarbe lebe dort.

Das Kommunalwahlvotum war eine Ohrfeige

„Die mit der Verteidigung von Macht und Posten beschäftigten Parteispitzen wollen von solchen Missständen nichts hören, sie haben den Kontakt zur Realität verloren“, versichert Ben Amar. Das Kommunalwahlvotum sei eine Ohrfeige der Enttäuschten gewesen, bei den Europawahlen hätten die Sozialisten nun die andere Wange hinzuhalten. Ohnmächtig müsse er mit ansehen, wie der rechtspopulistische Front National sozial Schwachen den Schutz verspreche, den die PS ihnen nicht biete.

Wie die meisten Sozialisten hat auch Ben Amar einen Anstecker, der ihn als Parteimitglied ausweist. Eine geballte Faust und eine Rose prangen darauf. Das stellvertretende Stadtoberhaupt bewahrt ihn in der Schreibtischschublade auf. „Ich glaube zumindest, dass er da noch ist“, sagt Ben Amar. „Ich habe ihn in letzter Zeit nicht herausgeholt, ich mag ihn nicht mehr tragen.“