Ausgerechnet der Bundeswahlleiter sieht die hohe Zahl von Briefwählern generell kritisch. Damit setzt er das völlig falsche Signal – denn alles, was die Wahlbeteiligung wieder steigert, ist zunächst einmal zu begrüßen, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Die Klage über eine Wahl- und Politikverdrossenheit gehört seit Langem zum Standardrepertoire der politischen Beobachter. Auch in den Parteien haben geringe Wahlbeteiligungen in Ostdeutschland oder bei der Europawahl intensive Debatten ausgelöst. In der SPD wurde sogar mal erwogen, eine Woche lang wählen zu lassen und Wahlkabinen im Supermarkt oder im Postamt aufzubauen – logischerweise folgenlos. Spätestens seit der vorigen Bundestagswahl weiß man: Sobald die Bürger eine echte Wahl sehen, sind sie dabei. AfD und Linke polarisieren, beleben aber auch das Geschäft. Darüber kann man sich als Demokrat im Prinzip erst einmal freuen.

 

Briefwahl kommt der Individualisierung der Gesellschaft entgegen

Die größere Mobilisierung ist zudem der wachsenden Bereitschaft zur Briefwahl geschuldet. Diesem Trend demokratietheoretische Einwände entgegenzusetzen, wie es ausgerechnet der Bundeswahlleiter jetzt tut, ist nicht nur spitzfindig, sondern auch völlig verfehlt. Die Briefwahl kommt der Individualisierung der Gesellschaft entgegen. Die Menschen wollen – zum Beispiel – bei ihrer Urlaubsplanung nicht mehr alle Wahltage berücksichtigen. Dass sie ihr Votum im Lichte der vorletzten statt der letzten Meinungsumfrage vor einem Urnengang abgeben könnten, ist irrelevant. Eher schon muss man über digitale Wahllokale nachdenken, um speziell die jungen Bürger zum Wählen zu motivieren – aber nicht über ein Zurück ins vorige Jahrhundert.

matthias.schiermeyer@stzn.de