Weltmeister Toni Kroos legt nach dem 0:1 der Nationalelf gegen Brasilien den Finger in die Wunde und kritisiert seine Mitspieler scharf - gut so, meint unser Sportredakteur Marco Seliger.

Sport: Marco Seliger (sem)

Berlin - Erst Jérome Boateng, und jetzt also Toni Kroos. Über einen Mangel an kritischen Geistern in seinem Team kann sich der Bundestrainer Joachim Löw knapp zweieinhalb Monate vor dem Start der WM in Russland wahrlich nicht beschweren. Innenverteidiger Boateng legte nach dem 1:1 im Test gegen Spanien vor und sagte gefühlt, dass so ziemlich alles schlecht im deutschen Spiel gewesen sei. Jetzt, nach dem 0:1 gegen Brasilien zog Mittelfeldmann Kroos nach – und wie! „Einige hatten die Chance, sich zu zeigen, aber das haben sie nicht getan. Es ist gut zu sehen, dass noch einiges fehlt. Wir haben noch eine Menge Luft nach oben. Das war deutlich zu wenig“, sagte Kroos. Und weiter: „Wir sind nicht so gut, wie uns immer eingeredet wird - oder wie vielleicht auch einige von uns denken.“

 

Rumms, das saß – und das war auch gut so.

Bitte, so mies, wie Boateng und Kroos die deutschen Auftritte hinterher machten, waren sie bei weitem nicht. Das Spiel gegen Spanien war stark, das gegen Brasilien durchwachsen. In Berlin neutralisierten sich in der ersten Hälfte die Selecao und die deutsche Mannschaft, in der zweiten waren die fast in Bestbesetzung angetretenen Brasilianer einen Tick besser – und das gegen eine deutsche Elf, die sicher so nicht mehr zusammenspielen wird, da Joachim Löw etliche Stammkräfte schonte. Viel passiert ist also nicht, weshalb die Kritik von Kroos inhaltlich etwas überzogen war.

Führungsspieler schweigen Mängel nicht tot

Mit Blick auf die WM in Russland sind die Weckrufe von Kroos und Boateng aber ein gutes Zeichen. Dass die beiden Führungsspieler schon jetzt den Finger in die Wunde legen und Mängel offen ansprechen, ist ein klares Indiz dafür, dass die Sinne beim Weltmeister geschärft sind. Anders als noch bei der EM 2016 scheint bei den Helden von 2014 der absolute, der allerletzte Siegeswillen wieder vorhanden sein. Denn die Weltmeister wollen den großen Wurf in Russland – und das ist die Titelverteidigung. Dafür braucht es ein klares Erfolgsdenken, kritische Worte zur rechten Zeit und eine gesunde Hierarchie im Team. Lieber mal ein bisschen übers Ziel hinausschießen, als Mängel einfach totzuschweigen, so lässt sich die Sache vielleicht zusammenfassen. Jérome Boateng und Toni Kroos sind nun vorangegangen. Sie haben mit ihren Weckrufen schon zweieinhalb Monate vor der WM gezeigt, wie es funktioniert, auch außerhalb des Platzes Verantwortung zu übernehmen– und das ist gut so!