Im Sommer 1998 erschien „Harry Potter und der Stein der Weisen“ von J. K. Rowling. Und damit begann eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Eine achtjährige Leserin ist nicht ganz unschuldig daran.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Hamburg - Sorry, aber wir müssen ausnahmsweise mal auf Englisch anfangen; die Übersetzung folgt sogleich, versprochen: „The excitement in this book made me feel warm inside. I think it is possibly one of the best books an 8/9 year old could read.“

 

Das Ganze stelle man sich vor in noch etwas ungelenker Handschrift eines achtjährigen Londoner Mädchens namens Alice auf einem inzwischen angegrauten Notizzettel – und schon hat man das vermutlich kürzeste, aber einflussreichste und folgenreichste Literaturgutachten der Welt vor Augen: „Das Buch war so spannend, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Ich finde, es ist wahrscheinlich eins der besten Bücher, die 8- bis 9-Jährige lesen können.“ Ohne diesen Zettel gäbe es keinen Harry Potter.

Den Zettel fand Nigel Newton, der Geschäftsführer des Londoner Unternehmens Bloomsbury Publishing, auf seinem privaten Schreibtisch vor. Er hatte seiner achtjährigen Tochter Alice die ersten drei Kapitel eines Manuskriptes zu lesen gegeben, das von einer bis dato völlig unbekannten Autorin namens Joanne K. Rowling eingereicht worden war. Man war noch unschlüssig bei Bloomsbury; andere Verlage, so hörte man, hätten schon abgewunken. Andererseits war Bloomsbury just auf der Suche nach neuen Kinderbuchautoren. Also machte Newton den Lesetest bei seiner eigenen Tochter. Und stimmte am folgenden Tag im entscheidenden Verlagsmeeting der Empfehlung des Hauslektors zu. Man wollte es mal versuchen mit dieser Rowling. Sieben Bände sollte diese „Potter“-Reihe umfassen. Im Oktober 1997 erschien der Auftakt: „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ – in einer Auflage von sage und schreibe 500 Exemplaren.

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Im Zentrum bleiben die Bücher

Bei dieser Zahl sollte es bekanntlich nicht bleiben. Die Geschichte um einen Zauberschüler, der nach und nach in einen großen Kampf der Bösen gegen die Guten verwickelt wird, wurde mit der Zeit in achtzig Sprachen übersetzt. Die Gesamtauflage beträgt 500 Millionen Exemplare. Und auch wenn die entsprechenden Verfilmungen mit einem Gesamt-Einspielergebnis von über 7,7 Milliarden Dollar ökonomisch betrachtet natürlich noch die größere Nummer sind – ohne die sieben „Potter“-Bücher (von den Fans abgekürzt von „HP 1“ bis „HP 7“) als Zentrum und Quelle wäre dieser Erfolg undenkbar gewesen.

Im deutschsprachigen Raum liegt die „Potter“-Buchauflage inzwischen bei rund 34 Millionen Exemplaren – und Nutznießer ist der Hamburger Carlsen-Verlag. Hier hatte man Ende 1997 einen guten Riecher für den Stoff, hier ging man im Sommer 1998 bei der Erstauflage immerhin schon mal auf 8000. Und hier beschenkt man sich selbst und die Fans zum 20-Jahr-Jubiläum mit einem wahren Prachtband: „Harry Potter – Eine Geschichte voller Magie“ ist ein rund 250 Seiten starkes Grundlagenwerk, das wohl jedem, der die Rowling-Welt liebt und schätzt, noch völlig neue Ein- und Durchblicke verleihen kann.

Konzept orientiert sich an Schuljahren und -fächern

Carlsen ist dafür zu preisen, dass er auch an dieser Stelle investiert – denn das Buch ist die von Karlheinz Dürr, Anja Hansen-Schmidt und Ursula Held besorgte, sehr gewissenhafte Übersetzung jenes Ausstellungskataloges, den die British Library im vergangenen Herbst zu ihrer Ausstellung „Harry Potter: A History of Magic“ veröffentlichte. Jetzt sind also auch deutsche Fans in der Lage, all die Schätze aus den Archiven der Bibliothek, des Verlags, vor allem aber aus den Archiven der Autorin zu bewundern, die aus Anlass des 20-Jahr-Jubiläums der englischen Erstausgabe in der Euston Road 90 im Stadtteil St. Pancras erstmals gemeinsam präsentiert wurden. Nur, damit das wirklich klar ist: Wir sprechen von der British Library, einer der wichtigsten und angesehensten wissenschaftlichen Bibliotheken der Welt!

Es war für dieses Haus selbstverständlich, zum Geburtstag einer Kinder- und Jugendbuchreihe eine eigene, große Schau zusammenzustellen. Geleitet wurde sie übrigens von Julian Harrison, dem Leitenden Kurator des Hauses, der in den Jahren zuvor mit gleicher Ernsthaftigkeit große Ausstellungen zu den Jubiläen der Magna Charta und des Dichters William Shakespeare verantwortet hat. Man kann nur bewundern, mit welchem Respekt und Stolz die Angelsachsen auch jene populären Kulturschätze ihres Sprachraums behandeln, die in Deutschland von der Hochkritik leider weiterhin viel zu oft als populär, rein kommerziell und nichtig ausgegrenzt werden.

Was für ein schönes Konzept: Abgesehen von Auftakt und Schluss orientiert sich der Katalog in sieben Kapiteln an den Schulfächern, die am Zauberinternat Hogwarts gelehrt werden, also an: Zaubertränke, Kräuterkunde, Zauberkunst, Astronomie, Wahrsagen, Verteidigung gegen die dunklen Künste und Pflege magischer Geschöpfe. Zu all diesen Themen kombiniert der Katalog persönliches Material der Autorin mit Quellen aus den eigenen Beständen (darunter besagtes Erstgutachten von Alice Newton), Bilder- und Buchschätzen, die deutlich machen, wie erstaunlich tief auch das kulturhistorische Wissen ist, aus dem Joanne K. Rowling bei ihrer Arbeit geschöpft hat. Denn das Forschen nach den womöglich magischen Zusammenhängen unserer Welt durchzieht ja die Menschheitsgeschichte von Beginn an – und die Grenzen zwischen Magie und Religion sind immer fließend gewesen.

Auf Notizpapier ist schon alles genau geplant

Wer immer geglaubt hat, so ein Kinder- oder Jugendbuch zu schreiben sei keine große Sache, schaue auf die Seiten 240 und 241. Dort erblicken wir im Faksimile endlich die Beweise, dass Rowling tatsächlich von Anfang an die gesamte Handlung ihrer siebenbändigen Saga im Kopf hatte: eng beschriebene Tabellen auf Linienpapier, erstellt Mitte der neunziger Jahre, legen das Schicksal aller Charaktere der riesigen und weit ausgreifenden Geschichte fest. Da wird man doch ein wenig andächtig.

Nicolas Flamel hieß übrigens der Alchemist, der im ersten Band jenen titelgebenden „Stein der Weisen“ geschaffen hat, der in Hogwarts so sicher verwahrt schien. Wer nun den „Potter“-Geschichtsband studiert, erfährt, dass die Autorin sich auch hier an einem realen Alchemisten orientierte. Nicolas Flamel starb 1418 in Paris; das Museum für mittelalterliche Geschichte verwahrt seinen Grabstein. Ach ja, und wer im Netz schon mal den Trailer für den kommenden Rowling-Film „Phantastische Tierwesen 2“ angeschaut hat (Filmstart: 15. November), der weiß, dass dort auch der Alchemist Nicolas Flamel eine Rolle spielen wird. So schließen sich die Kreise.

HP muss nun noch eines schaffen: Ende März den Brexit wegzaubern. Es gäbe da doch diesen Vergessenszauber: Obliviate!