Die Kulturhauptstädte 2022 sind Esch (Luxemburg), Kaunas (Litauen) und Novi Sad (Serbien). Was bedeutet der Titel, und was planen die Metropolen?

Esch/Kaunas/Novi Sad - Seit 1985 vergibt die Europäische Union jährlich den Titel Kulturhauptstadt Europas (bis 1999: Kulturstadt Europas), seit 2004 geht er an jeweils mindestens zwei Städte, die von der EU Fördermittel für Kulturprojekte erhalten. Ziel ist es, den Reichtum, die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa deutlich zu machen und Brücken zwischen den Staaten Europas zu bauen. Die ausgezeichneten Städte können mit dem Titel werben und locken durch ihr attraktives Kulturangebot ein Jahr lang mehr Besucher an. 2021 teilten sich das irische Galway und das kroatische Rijeka den Titel. Die Ehrung der 2021 ursprünglich auch vorgesehenen Städte Timisoara (Rumänien) und Eleusis (Griechenland) wurde wegen der Corona-Pandemie auf 2023 verschoben, und der Titel der Stadt Novi Sad aus dem EU-Anwärterland Serbien verschob sich vom letzten Jahr auf 2022. Dann teilt es sich die Auszeichnung mit dem luxemburgischen Esch und dem litauischen Kaunas.

 

Esch will die Spuren der Schwerindustrie durch Kunst transformieren

In der Region rund um das 36 000-Einwohner-Städtchen Esch-sur-Alzette – dazu gehören neben Esch zehn umliegende Gemeinden in Luxemburg und acht französische Gemeinden der Kommunalverwaltung in Audun-le-Tiche – soll es zeitgenössisch, bunt, vielfältig und international zugehen. Das Motto: „Remix Culture“. Erzählt werden soll ab 22. Februar die Geschichte der Stahlindustrie in der Region. Auf dem Programm stehen Theater, Festivals, Ausstellungen, Tanz, Performances, Workshops und digitale Kunst, mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den beteiligten Gemeinden.

Esch ist die zweitgrößte Stadt Luxemburgs und seit 2003 der Standort der einzigen Universität des Großherzogtums. Der Ort ist vor allem durch Erzabbau und Schwerindustrie seit Ende des 19. Jahrhunderts reich geworden. Damals immigrierten viele Menschen aus ganz Europa in die Region Südluxemburg und Lothringen – ihnen verdankt sich die Region bis heute ihre Internationalität. Die Schwerindustrie hat im Stadtbild Spuren hinterlassen, aber Esch präsentiert sich heute auch als Metropole der zeitgenössischen Kunst – besonders prominent in der Konschthal (Kunsthalle), die mit viel Shabby Chic in einem ehemaligen Möbelhaus residiert. Dort präsentiert u. a. der deutsche Künstler Gregor Schneider seine aus dem Alltag herausgeschnittenen „Räume“.

Kaunas präsentiert ein großes Erbe der Moderne

Auch das litauische Kaunas ist die zweitgrößte Stadt des Landes. Es liegt am Zusammenfluss von Memel und Neris, und in seiner Innenstadt stehen Gebäude aus dem Mittelalter neben Bauten des 19. Jahrhunderts. Es gibt eine gut 2,5 Kilometer lange Fußgängerzone mit Cafés, Galerien und Boutiquen, und am historischen Rathausplatz stehen Sehenswürdigkeiten wie etwa die Peter-und-Paul-Kathedrale, die Jesuitenkirche oder das historische Rathaus. Das Teufelsmuseum beheimatet eine weltweit einzigartige Sammlung von Teufelsfiguren. In der Nähe des Rathausplatzes an der Neris lockt die Ruine der Burg Kaunas. Wegen ihrer zahlreichen Parks und Grünflächen rühmt sich die Stadt, einer der grünsten Orte des Landes zu sein. Von den 6 000 Bauten der Moderne in der Stadt sind 44 im Europäischen Kulturerbe gelistet; dieses Erbe hat Künstler aus aller Welt angelockt. Überdies gibt es Events wie das Architekturfestival Kaunas, die Designwoche und die Textilkunst-Biennale Kaunas.

Der offizielle Leitspruch der Stadt für das Kulturhauptstadt-Jahr 2022 heißt „From temporary to contemporary“. Im Zentrum des Programms soll die Trilogie „Mythos von Kaunas“ stehen, eine an drei Wochenenden stattfindende Veranstaltungsreihe. Geplant sind insgesamt mehr als 40 Festivals, 60 Ausstellungen und jeweils über 250 Veranstaltungen der darstellenden Künste und Konzerte. Zu den Höhepunkten zählen eine Einzelausstellung des Künstlers William Kentridge und eine Retrospektive von Yoko Ono.

Novi Sad: Kunst in einer ehemaligen Seidenfärberei

So wie Kaunas erhofft sich auch das serbische Novi Sad (übrigens ebenfalls die zweitgrößte Stadt des Landes) von der Auszeichnung einen tief greifenden Imagewandel hin zu einer jungen, attraktiven Kulturmetropole. Novi Sad will vor allem die kommunistischen Zeiten im ehemaligen Jugoslawien bis hin zum Bombardement durch NATO-Truppen in den 1990er-Jahren hinter sich lassen. „Serbien als Marke, als ‚brand‘, hatte am Ende des 20. Jahrhunderts ein echt schlechtes Image“, sagt Nemanja Milenković vom serbischen Kulturhauptstadt-Organisationskomitee. „Branding ist der Prozess, das zu ändern. Es geht dabei nicht um Propaganda, nicht um Lügen. Sondern es geht darum, eine neue Wahrheit zu sagen. Mit dem preisgekrönten Musikfestival Exit (in der Festung Petrovaradin), mit den Titeln Europäische Jugendhauptstadt und Europäische Kulturhauptstadt hat sich die Atmosphäre in Novi Sad wirklich verändert. Es ist in der Region die Stadt der Kultur, der Kreativwirtschaft, der jungen Leute geworden.“ Tatsächlich sind in Novi Sad etliche stillgelegte Fabriken zu lebendigen Kunstorten geworden, eine historische Festung dient als Ort für ein Musikfestival, und es gibt eine lebendige Straßenkunst-Szene.

Dabei trägt die Stadt den Titel Europäische Kulturhauptstadt, obwohl sie außerhalb der EU liegt: Serbien ist bisher kein Mitglied, sondern nur Beitrittskandidat. Auch das Programm von Novi Sad wirkt nicht wirklich rund, sieht bisher nach einer Aneinanderreihung von Festivals, Aufführungen und Ausstellungen aus. Für das Ehrenjahr wurde aber eine Reihe neuer Kunst- und Aufführungsräume eröffnet, jeder mit seinem eigenen Charakter und Programm. Viele von ihnen residieren in restaurierten, denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht, so zum Beispiel in einer ehemaligen Seidenfärberei.