Im Stuttgarter Performance Hotel bekommt man gegen eine künstlerische Darbietung einen Gratis-Schlafplatz angeboten.

Stuttgart - Martin Obrecht sitzt in Zimmer 156 und begleicht seine Rechnung. Der Preis für die Nacht: eine Stunde Gottfried Benn. Obrecht, 49, ist gelernter Schauspieler, breite Schultern, freundlicher Blick. Mit mächtiger Stimme trägt er aus dem Band "Morgue und andere Gedichte" vor. Seit einer Woche liest Obrecht jeden Abend im Performance Hotel. Sein Publikum sind die anderen Gäste. Einmal kamen auch Nachbarn.

Oft sitzen sie aber nur zu zweit in Zimmer 156: Obrecht, mit Buch in der Hand, und Byung Chul Kim, Leiter des Hotels. Dessen Leitsatz lautet: Wer Aktionskunst zeigt, darf gratis übernachten. Wer keine Show gibt, zahlt nicht viel mehr. Zehn Euro für eine Nacht auf einer Matratze und unter einer Bettdecke. Drei Euro, wer Isomatte und Schlafsack mitbringt. "Viele Menschen zahlen lieber, als dass sie eine Performance zeigen", sagt Kim, 36. Dabei könne man nichts falsch machen. "Aktionskunst ist das, was man dazu erklärt."

Selbst wenn er wollte, Martin Obrecht kann zurzeit nicht mit Geld bezahlen. Die Krise hat ihn zu Fall gebracht. Auf Bühnen steht er schon lange nicht mehr, zuletzt war er Jobcoach. Er verlor Aufträge, hatte keine Rücklagen. Von heute auf morgen musste er seine Wohnung räumen. Sturzflug. Bis er einen neuen Job und ein WG-Zimmer gefunden hat, wohnt er im Performance Hotel. "Immerhin", sagt Obrecht. So habe er Zeit, an seinem Roman zu arbeiten. "Ich sehe mein Schicksal als Chance."

Eine 200 Jahre alte Villa Kunterbunt


Das Haus, das Byung Chul Kim "mein Hotel" nennt, steht in der Gablenberger Hauptstraße im Osten von Stuttgart, als sei es von einem anderen Stern. Eine Villa Kunterbunt, zwei Stockwerke hoch, die Fassade tapeziert bis unters Dach. Plakate kleben da, Kalenderblätter, gemusterte Raufaser und Landkarten. Als es vor 200 Jahren gebaut wurde, war das Gebäude von Weinstöcken umgeben. 1945 von Trümmern. Heute patrouillieren die Rentner im Stadtteil.

Byung Chul Kim steht in Kapuzenpulli und Daunenweste in der Kälte und blickt vorbeirauschenden Autos hinterher. Seine Preise hat er auf die Eingangstür geschrieben. Sie steht jedem offen, doch viele Gäste kann Kim trotzdem nicht begrüßen: Der Normalreisende stellt sich unter einem Hotel etwas anderes vor.

Wer sich doch hineinwagt, findet im Erdgeschoss zwei kleine Räume für Aktionen und Konzerte. In der ersten Etage gibt es eine Küche im Studenten-WG-Stil, ein Badezimmer in Altrosa und zwei Schlafzimmer mit Platz für ein Dutzend Gäste. In den Räumen "156" und "301" liegen frisch bezogene Matratzen auf dem Fußboden. Darauf weiche Bettdecken und Kopfkissen, jeweils mit einem Buch garniert. An "156" schließt die hauseigene Fahrradwerkstatt an. Sie dient zugleich als Fitnessraum - Kim hat ein altes Rad zum Heimtrainer umgebaut. Wer Luxus sucht, liegt hier falsch. Aber es ist sauber, warm und trocken.

Byung Chul Kim lebt unterm Dach, wo die Wände schräg sind bis zum Boden. Bett, Rechner und Rennrad - viel mehr Besitz hat er nicht angehäuft, seit er vor sechs Jahren aus Seoul nach Stuttgart kam. "In Korea kann man nur etwas werden, wenn man Geld und Kontakte hat." Kim hatte beides nicht. "In Deutschland gab es damals keine Studiengebühren, also bin ich hergekommen." Seither studiert er an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Schwerpunkt Performative Kunst.

Gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes


Früher hat Kim gemalt, heute arrangiert er. Seit einem halben Jahr heißt sein Werk Performance Hotel. Kim kauft ein, wäscht Wäsche, kehrt Laub, putzt das Bad, macht Kaffee und Marmeladenbrote. Und er dokumentiert mit der Kamera, was seine Gäste für ein Dach überm Kopf alles tun. Ein paar Jungs gaben ein Rap-Konzert auf dem Gehweg. Eine Gruppe junger Leute hat schlicht eine Grillparty geschmissen. Und Bodo, der mit seinem Fahrrad quer durch die Republik kurvt, erzählte von all den Dingen, die er unterwegs erlebt. "Das war eine schöne Performance", sagt Kim. Sein Fotoarchiv füllt sich. Seine Kasse bleibt leer.

Angst vor dem Monatsende muss er nicht haben. Alle Rechnungen sind an den Lehrstuhl seiner Dozentin Susanne Jakob adressiert. Sein Hotel ist ein Projekt der Kunsthochschule in Stuttgart und der Hochschule für Bildende Künste in Saarbrücken. "Wir wollen die Kunst dahin bringen, wo die Menschen sind", sagt Susanne Jakob, die das Projekt mit ihrem Saarbrücker Kollegen Georg Winter begleitet.

Ein Jahr lang beobachten und kommentieren ihre Studenten das Leben auf den Straßen von Gablenberg. Das kann so aussehen: als sie merkten, wie viele Menschen hier Flaschen sammeln, zurrten sie 50 weiße Plastikeimer an Schildermasten und Regenrinnen fest. Eine Einladung zum "Solidarrecycling". Man kann Pfandgut in die Eimer legen - oder es entnehmen. Je nach finanzieller Lage. "Wir wollen einen Beitrag leisten", sagt Susanne Jakob. Sie sieht die Aktionen, zu denen auch das Hotel gehört, als Protest gegen die Kommerzialisierung von öffentlichem Raum. Ein Thema, das derzeit nicht nur in Stuttgarter Intellektuelle beschäftigt.

So halten seit August Künstler das Hamburger Gängeviertel besetzt. Sie wollen den Abriss des historischen Quartiers zugunsten von neuen Glastürmen verhindern. Mit Erfolg: mittlerweile versucht der Hamburger Senat, das Viertel zurückzukaufen. Die Stadt, sagen die Künstler, soll ein Spielplatz für Bürger sein, nicht für Investoren. "Unser Haus ist ein offener Raum", sagt Susanne Jakob in Stuttgart.

Ursprünglich waren Ateliers geplant


Es ist kein Zufall, dass die Künstler Gablenberg als Standort gewählt haben. Das Viertel ist wie abgeschnitten, gesellschaftlich und geografisch. Es liegt jenseits der Uhlandshöhe, dem östlichen Rand des Stuttgarter Kessels. Im Norden schiebt sich ein hässlicher Industriekomplex vors Neckarufer. Einziger Vorteil: hier gibt es noch Leerstand, wie das alte Winzerhaus, für das die Stadt seit Jahren einen Käufer suchte.

Im Juli 2009 übergab sie es - zunächst für ein Jahr - den Studenten. Die schmissen die verschimmelten Teppiche aus dem Fenster und schrubbten den Fußboden. Sie strichen die Wände und besorgten Möbel. Geplant waren Ateliers und Galerien. Dann hatte Byung Chul Kim die Idee mit dem Hotel. Er war selbst in dem Haus untergekommen, weil er zu dem Zeitpunkt eine Wohnung suchte. "Ich dachte mir: wenn ich hier schlafen darf, weil ich Künstler bin, muss jeder Künstler hier schlafen dürfen."

Es ist ein kalter Winterabend. Ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, geht Byung Chul Kim in den kleinen Garten hinterm Haus. Hier, unter einer Tanne, steht seine Freiluftbadewanne. Es gibt auch eine im Haus, aber Kim badet am liebsten hier draußen. "Das ist der Wellnessbereich", sagt er. Unter dem Tank lodert ein kleines Feuer. Kim legt das Handtuch ab und steigt ins dampfende Wasser. Ein 14-Stunden-Tag liegt hinter ihm. "Ich kann gut improvisieren, aber auf Dauer ist dieser Job auch eine Belastung", sagt der Hotelier in der Wanne. Im Februar will er zu einem Casting für eine Zimmermädchen-Performance laden, sagt er und taucht ab.

Auch Kunst hat mal Feierabend.

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