Die Künstlerinnen der Flanerie luden im Stuttgarter Süden zur Vernissage auf einen Spaziergang mit Hör-Geschichten ein. Wer nicht da war, kann sie im Internet nachhören.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-Süd - Eine sich emporschraubende Figur markiert den Treffpunkt der kleinen Gruppe. Überlebensgroß ist sie in einem ebenerdigen Fenster in der Tulpenstraße aufgebaut, man sieht sie von der Straße aus. Die Skulptur verkörpert einen Menschen auf dem Sprung, zwischen noch hier und schon dort, und sie ist der Startpunkt einer Horch-Performance der Künstlerinnen Tina Saum and Daniela Raab, genannt die Flanerie. „Die Idee war, das Unterwegs- und In-Bewegung-sein zu beschreiben und unterschiedliche Orte einander gegenüber zu stellen“, erklärt Tina Saum. Denn aus ihrer Sicht ist die Freizügigkeit des Menschen ein hohes Gut, sie bereichere die Welt des Einzelnen. Wo jemand lande, entschiede oft der Zufall.

 

Von Nägeln und Bärten

Bei den etwa 20 Teilnehmern der Vernissage am Donnerstagabend ist das definitiv so, weil die Münze entscheidet, wo es lang geht. Aber zunächst stopfen sie sich Kopfhörer in die Ohren, dann gehen sie los. Sie hören Musik, sachten Gesang, Geschichten über Straßen. An jeder Ecke wird die Münze geworfen. Kopf oder Zahl entscheiden über links oder rechts. Der Tross gehorcht – auch um den Preis, mal im Kreis herumgeführt zu werden. Die Vernissage-Besucher hören Interviews, die die Künstlerinnen mit sechs Wahlstuttgartern aufgenommen haben.

Die Interviewten sind Migranten und Kulturschaffende. Sie stammen aus Bosnien-Herzegowina, von der Elfenbeinküste, aus Belgien, Usbekistan, Russland. Sie beschreiben in den Interviews einen ihrer alltäglichen Wege in Stuttgart und einen in ihrer ehemaligen Heimatstadt. Interessant ist schon, was die Einzelnen überhaupt für berichtenswert erachten. Der eine klaubt die historischen Daten des Schwabtunnels zusammen, der auf seinem Stuttgarter Alltagsweg liegt. Eine andere vermerkt, dass an der Tübinger Straße die Nagelstudios allmählich neuen Barber-Shops weichen und sinniert: „Die Bärte der Männer haben die Nägel der Frauen abgelöst.“ Andere beobachten Menschen und Tauben. „Am Erwin-Schoettle-Platz spielen Menschen vom Balkan Boule“, stellt Diana fest, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt.

Plötzlich spricht er Französisch

In den Geschichten über die Heimat schwingt nicht selten ein Wehmütiger Unterton mit – etwa wenn Elena aus Sankt Petersburg erzählt, dass sie gern einen Abstecher in die Kathedrale gemacht habe, die früher auf ihrem Weg lag. Nestor von der Elfenbeinküste verfällt in seinen Geschichten aus Abidjan plötzlich in seine angestammte Sprache, als er von Garba erzählt, einem Nationalgericht, dessen Rezeptur er den Zuhörern in Französisch kredenzt. Es ist als katapultiere ihn die Erinnerung an den Geschmack so nah an die alten Orte, dass er auch gleich in die Sprache verfällt. In die Erzählungen vom Jetzt mischen sich mitunter Erinnerungen ans dort.

Die Arbeit von Saum and Raab entstand während des jüngsten Bundestagswahlkampfes, als die Rechte das Thema Flüchtlinge zur Gretchenfrage stillisierte und der Ton in Sachen Einwanderung scharf wurde. Das hat in den beiden Künstlerinnen den Wunsch genährt, die Freizügigkeit in unseren Gesellschaften als etwas Besonderes und Kostbares zu feiern. Ihre Arbeit ist insofern auch ein politisches Statement ohne, dass sie sich dabei in die aggressive Rhetorik der Politik verirrten. Es ist viel mehr ein leiser, brüderlich-warmherziger Appell, alle Menschen ihrer Wege ziehen zu lassen.