Die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart zählt mit ihrer 250-jährigen Geschichte zu den ältesten Kunsteinrichtungen.  

Stuttgart - Der Geruch von Ölfarbe hat sich für immer einquartiert in dem hohen Saal mit seinen Rundbögen. Es duftet nach Sonnengelb, Ultramarinblau, Eisenoxidrot, Saftgrün, Kobaltviolett und Kadmiumorange, einem sinnlichen Gemisch, das hier schon seit Jahrzehnten auf Paletten angerührt wird, von Pinseln tropft und aus Leinwänden dampft.

 

Generationen von Studenten haben sich in dem Malsaal in die Welt der schönen Künste einführen lassen und dabei unter anderem gelernt, mit Palettmesser und Anreibeplatte umzugehen. "Ich arbeite in meinen Bildern mit viel Farbe, da ist es praktischer, wenn man sie selber herstellen kann", sagt Lisa Götze, die Bildende Kunst studiert und ins sechste Semester kommt. Die 23-Jährige nutzt den sogenannten Werkstattmonat, der an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste zweimal im Jahr während der vorlesungsfreien Zeit angeboten wird, "um", wie sie sagt, "die Tiefen des Materials zur ergründen", das sie womöglich ein Leben lang begleiten wird.

Die Studenten können experimentieren

Für Enno Lehmann, den Werkstattleiter im Malsaal, ist es zunächst "eine Frage der Bildung", sich auch in Zeiten von Fertigprodukten mit den Rohstoffen der Kunst auseinanderzusetzen. "Man muss das Material verstehen, sich auf eine intime Beziehung einlassen", sagt er. Zwischen der Art der Farbe und dem künstlerischen Anliegen gebe es einen Bedeutungszusammenhang, den der Künstler kennen müsse, so Lehmann, der selbst Bildhauer und Maler ist und unter anderem für den Lichtdesigner Ingo Maurer Farben entwickelt hat.

Seine Kurse in den Werkstattmonaten sind stets gut besucht, nicht zuletzt natürlich auch wegen der Scheine, die es am Ende gibt. Helen Tuma, die im elften Semester Kunsterziehung studiert und wie Lisa Götze die Malereifachklasse von Professor Reto Boller besucht, hat schon etliche solcher Werkstattscheine gesammelt, etwa auch in der Glaswerkstatt und der Siebdruckerei. "Das Angebot, in verschiedenen Werkstätten experimentieren zu können, muss man nutzen", sagt die 25-Jährige.


Die 32 Werkstätten sind Herz und Seele der Kunstakademie am Weißenhof, die mit ihrer nun 250-jährigen Geschichte eine der ältesten und mit 900 Studenten auch eine der größten Einrichtungen ihrer Art in Deutschland ist. "Seit jeher treffen hier Künstler, Kunsterzieher, Architekten, Designer, Restauratoren und Kunstwissenschaftler aufeinander. Nur wenig andere deutsche Akademien können diese spannende Mischung aus freiem und angewandtem Bereich bieten", sagt Petra von Olschowski, die Rektorin der Hochschule.

Gegründet wurde sie am 25. Juni 1761 von Herzog Carl Eugen als Académie des Arts und als ein Ort, "wo sich die Jugend bilden kann, wie junge Pflanzen in einer Baumschule". Nach einigen Umzügen und Neugründungen wurde im Jahr 1913 der heutige Altbau der Akademie nach den Entwürfen des Architekten Bernhard Pankok gebaut, der seinerzeit den ehrgeizigen Plan umsetzte, die in der ganzen Stadt verteilten Kunstlehranstalten auf dem Weißenhof zu vereinen. Gleichzeitig wurde mit dem Umzug der Werkstattbereich ausgebaut und zunächst eine Buchdruckerei eingerichtet, gefolgt von einer Werkstatt für Dekorationsmaler und der damals so bezeichneten Frauenabteilung, in der sich die Studentinnen in den Disziplinen Stickerei, Spitzenklöppelei und Batik üben konnten.

Kunst ist zu Beginn pures Handwerk

"Nur nicht den Faden verlieren" lautet bei den Textilgestaltern von heute die oberste Maxime, wenn sie in einer der Werkstätten Hand anlegen. Dort stehen reihenweise Webstühle aus einem anderen Jahrhundert und Handstrickmaschinen, die ebenfalls in keiner Produktionsstätte mehr Arbeit verrichten. Dafür sind sie umso lehrreicher. "Ein Designer muss wissen, was technisch möglich ist. Und um das zu begreifen, muss man ins Material gehen", sagt Dorothee Silbermann, die während des Werkstattmonats im Strickstudio Drapierkurse gibt und beispielsweise zeigt, wie Stoffe fallen müssen. In der Weberei lernen die Textilgestalterinnen, zu welchen Kompositionen Fäden verflochten werden können. Ein mitunter verwirrendes Geschäft. Zwei bis drei Tage dauert es alleine, bis in einem Tastenwebstuhl die sogenannte Kette gelegt ist, wie die Fäden in Längsrichtung heißen. Erst dann kann mit den Querfäden das Muster ins Gewebe "geschossen" werden. "Bei dieser Arbeit bekommt man ein Gefühl für Rhythmus, Farbe und Bindung", sagt Anja Müller, die Leiterin der Weberei.

Auch in diesem Studiengang steht am Anfang das pure Handwerk, bevor es an die Kunst geht. "Die Lehre über das Material ist die Basis für alles, nur daraus ergibt sich die endlose Vielfalt textiler Ausdrucksmöglichkeiten", erklärt Karl Höing, Professor für Textilgestaltung. Isabelle Zug, die ins vierte Semester kommt, hat sich wie viele ihrer Kommilitoninnen "gerade wegen des hohen Anteils an praktischer Arbeit" für die Stuttgarter Akademie entschieden. Ihre Aufgabe im Werkstattmonat ist, einen Bezugsstoff für Möbel zu kreieren. "Am Anfang entscheidet der Bauch. Wenn man lange genug experimentiert, bekommt man ein Gefühl dafür", sagt die 23-Jährige.


Neben Kunst und Design gehören heute auch Architektur und Wissenschaft zu den Säulen der Akademie, an der im Laufe der Jahre zahlreiche Berühmtheiten gelehrt haben. Allen voran der Maler Adolf Hölzel, Protagonist der Abstraktion und Wegbereiter der Moderne, der hier von 1905 bis 1919 wirkte und noch heute eine der Zentralfiguren der Einrichtung ist. Zu den prägenden Erscheinungen zählt zudem der Hölzel-Schüler Willi Baumeister, der 1946 als Professor an die Akademie berufen wurde. Und auch der Maler, Zeichner und Illustrator Gunter Böhmer, der Bildhauer und Maler Alfred Hrdlicka, der Maler K.R. H. Sonderborg, die amerikanische Performancekünstlerin Joan Jonas, der erst jüngst verstorbene Grafikdesigner Kurt Weidemann sowie die Architekten David Chipperfield, Erwin Heinle und Herta-Maria Witzemann haben hier ihre Spuren hinterlassen.

Der Pluralismus der Stile soll heute wie damals prägendes Element der Hochschule sein, die sich als Experimentierfeld für künstlerische Arbeit versteht und zur Innovation bekennt. Damit gleichzeitig Bewährtes erhalten bleibt, werden in den Werkstätten wie der Bronzegießerei oder dem Malsaal nach wie vor auch alte Techniken gepflegt. So lehrt Enno Lehmann etwa auch Freskenmalerei, die heute noch funktioniert wie zu Zeiten Michelangelos. "Das sind Kunstfertigkeiten, die verstanden und weitergetragen werden müssen", sagt er.

"Ein perfektes Schriftbild ist wie ein Kunstwerk"

Die Schätze der Satzwerkstatt liegen bleischwer in den Regalen und tragen poetische Namen wie Symphonie, Walbaum, Amati und Helvetica. Mehr als vier Dutzend Schriften in allen Punktgrößen umfasst die Sammlung der bereits 1919 eingerichteten Werkstatt, der umfangreichsten ihrer Art in Deutschland. "Typografie muss im wahrsten Sinne des Wortes begreiflich sein", sagt Werkstattleiter Jan Arnold, zu dessen Inventar auch eine Andruckpresse von 1920 gehört. Das Blei in der Hand wiegen, Abstandhalter setzen, Druckerschwärze aufreiben, Buchstaben feilen, bis die Abstände sich zu einem harmonischen Schwarz-Weiß-Rhythmus fügen. "Am Computer lernt man nicht, worauf es beim Setzen ankommt", sagt Arnold, der seine Studenten zum Einstieg gern mit der Breitfeder schreiben lässt. "Ein perfektes Schriftbild", sagt er, "ist wie ein Kunstwerk."

In jedem Werkstattmonat versuchen sich Studenten daran, eine neue Schrift zu entwerfen, die diesem Ideal möglichst nahekommt. "Sie soll möglichst vielseitig einsetzbar sein, aber dennoch ihren ganz eigenen Charakter haben", sagt Lina Fesseler, die im sechsten Semester Kommunikationsdesign studiert und gerade am P arbeitet. In guter Typografie liege viel Stärke, sagt die 23-Jährige: "Man kann nicht mehr aufhören, Schriften anzusehen."

Im Werkstattbestand lagern einige besondere Exemplare als Anschauungsobjekt, kreiert von Schriftkünstlern aus den Reihen der Stuttgarter Akademie: vom Grafiker Walter Brudi, der hier genauso lehrte wie Johannes Vincenz Cissarz oder Ernst Schneidler, der zahlreiche bedeutende Schriften hinterlassen hat, die noch heute zu sehen sind. So auch am historischen Altbau am Weißenhof, an dem in schönster Schneidler-Antiqua gesetzt steht: Staatliche Akademie der Bildenden Künste.